Konkret 02/82, S. 11  
Winfried Wolf  
Pleite und Moral  
Polen ist zahlungsunfähig, die polnischen Arbeiter hungern für die westlichen Banken.
 
GEMESSEN an den Maßstäben einer politischen Moral, die bei anderen (passenderen) Gelegenheiten hervorgekramt wird, hat die Partei- und Staatsbürokratie der Volksrepublik Polen mit dem Militärputsch vom 13. Dezember 1981 ihren politischen Bankrott erklärt. Gemessen an den einschlägigen Bestimmungen des internationalen Handelsrechts erlitt die VR Polen mit der Nichtbegleichung ausstehender Zinszahlungen am 31. Dezember den wirtschaftlichen Bankrott.  
Doch Moral hin, Handelsrecht her - beides wird in Kapital-Kreisen im Westen anders gesehen. Daß dabei das Sein das Bewußtsein, Handel die Moral bestimmt, dürfte spätestens dann deutlich werden, wenn hinzugefügt wird: es geht um 28.500.000 US-Dollar, um runde 65 Milliarden Mark mit denen die VR Polen bei den Westbanken in der Kreide steht; es geht um Soll oder Haben solch riesiger Summen und für einige dieser Banken möglicherweise auch um Sein oder Nichtsein. Dieses 28-Mrd.-Dollar-Argument läßt den 13. und den 3 1. Dezember 1981 in einem völlig anderen Licht erscheinen.  
Natürlich, wir reden nicht von den Fassadenklebern und - streichern; nicht von »Bild«, auch nicht von den halbwegs allgemein zugänglichen ersten Seiten der bürgerlichen und liberalen Blätter. Hier ist Polen der Vorwand, um die antikommunistische Sau rauszulassen. Wir reden von den feineren Blättern und den weniger zugänglichen Wirtschaftsseiten der bürgerlichen Zeitungen:  
»Niemand im Westen kann jetzt ein Interesse daran haben, die Hilfsmöglichkeiten (für das Polen unter der Militärregierung) drastisch zu beschneiden.« Befand das »Handelsblatt«. »Obwohl man Jaruzelskis Militärputsch nicht zuzustimmen braucht«, so war in der »Zeit« zu lesen, »muß man ihm doch Erfolg wünschen.« Das New Yorker »Wall Street Journal« äußerte sich eine Spur direkter: »Die Mehrheit der Banker ist der Ansicht, daß autoritäre Regierungen eine gute Sache sind, da sie zur Disziplin zwingen. « Und die Londoner »Financial Times« wurde ausgesprochen lyrisch: »Es ist eine Tatsache, daß die « westlichen Regierungen die Ereignisse in Osteuropa nicht bestimmen können und nicht versuchen sollten, dies zu tun. « In den unsterblichen Worten von Fats Waller: »I'll sigh for you (yeah), I'll cry for you (yeah) / I tear the stars down from the sky for you / What more can I say? You want me to rob a bank? / Well, I won't do it! / If this ain't love, it'll have to do ...«  
Am 31. Dezember 1981, 24 Uhr, war die Volksrepublik Polen bankrott. Denn sie konnte im letzten Jahr nicht nur die Tilgungsraten der Westschulden nicht begleichen - sie blieb auch den größten Teil der Zinszahlungen schuldig. Die volle Begleichung aller Zinsen war jedoch Voraussetzung dafür, daß die Umschuldungsvereinbarungen von Mitte 1981 Gültigkeit erlangen; der entsprechende Vertrag sollte am 29. Dezember 1981 unterzeichnet werden. Daraus wurde nichts - wenige Tage nach dem Militärputsch ließen die neuen polnischen Machthaber die Westbanker wissen, daß sie auch die ausstehenden 350 Millionen Dollar Zinsen für 1981 nicht begleichen konnten. Damit hätten die Polenkredite, da keine neuen Abmachungen erfolgten, nach internationalem Wirtschaftsrecht, als .»notleidend«, die VR Polen als zahlungsunfähig erklärt werden müssen.  
Die kapitalistischen Gläubiger zitterten und zittern, daß auch nur eines der 460 am Polen-Kredit-Geschäft beteiligten Institute die Nerven verliert, seine Kredite für verloren erklärt (abschreibt) und damit Polen offiziell »in Verzug« setzt. Die am Kredit-Clearing beteiligte Wiener Creditanstalt Bankverein erließ eigens ein Fernschreiben an die Banker-Kollegen und appellierte an die Solidarität mit den beteiligten Banken, um eine »Kette von Kreditausfällen« zu vermeiden. Da paßt es dann ins Bild, wenn der erste Westemissär der polnischen Putschisten, Rakowski, in der BRD, dem Land mit den größten Osthandelsinteressen und dem stärksten Engagement bei den Polen-Krediten empfangen wird und mit Otto Wolff von Amerongen eine Art TV-Silvesteransprache hält. Man wundert sich auch kaum, daß Dresdner Bank-Chef Friderichs als erste westliche VIP das Polen des Militärrats besucht und man ahnt, daß seine hochnotpeinlichen Fragen dort nicht den Internierten gelten. Schon möglich, daß er gemeint war, als der »Spiegel« einen »Frankfurter Großbankier« wie folgt zu Worte kommen ließ: »So sehr uns Demokraten das Herz blutet, durch den Ausnahmezustand können unsere Kredite nur sicherer und besser werden.«  
Daß die Kredite jetzt sicherer sind, ist möglich, jedoch keineswegs gewiß; die Banker jedenfalls hoffen es. Und dies nicht erst seitdem 13. Dezember 1981. »Diesesmal«, so das »Handelsblatt«, »kann sich keine westliche Regierung darauf hinausreden, von den Ereignissen überrascht worden zu sein.« Die Bankiers schon gar nicht.  
Schon im November 1981 ließ die polnische Regierung den westlichen Gläubiger-Banken ein Papier zukommen, das dort wie eine Bombe einschlug. Es handelte sich um ein umfassendes, detailliertes Dossier über die polnische Wirtschaft und deren (angebliche) Perspektiven. Experten sind sich einig: noch nie gab ein nicht-kapitalistisches Land freiwillig einen so intimen Einblick in das Innenleben bürokratischer (Miß-)Wirtschaft.  
Wie kam es zu dem Gesinnungswandel der bisherigen professionellen Geheimniskrämer? Sollten damit neue Dollar-Milliarden lockergemacht werden? Wohl kaum, denn das Papier malt schwarz in schwarz: Devisenreserven - gleich null; staatliche Industrie - vom Defizit zur Quadratur des Defizits; Staatshaushalt und Zahlungsbilanz - triefend von roter Tinte... Die polnische Partei- und Staatsführung brach damit offensichtlich alle Brücken hinter sich ab und signalisierte den Kurs auf eine direkte Konfrontation mit Solidarnosc.  
Das in revolutionärer Gärung befindliche Polen hatte offensichtlich an der Wall Street und beim europäischen Finanzkapital jeden Kredit verloren - bis zum 31. Dezember 1981, als der revolutionäre Prozeß gewaltsam gestoppt, Polen »von straffer Hand« regiert und unter Kriegsrecht gestellt wurde. Jetzt ließ man den 31. Dezember verstreichen, praktizierte die in diesen Kreisen übliche Solidarität, erklärte, daß Zins-Zahlungen auch noch bis Ende des ersten Vierteljahres 1982 als 1981 eingegangen gebucht werden könnten...  
Hätten die Banken Ende 1981 ihre Polen-Kredite abschreiben, als Verluste buchen müssen, dann wäre unter den derzeitigen Bedingungen leicht die eine oder andere Bank ins Wanken geraten - und hätte eine Kettenreaktion auslösen können. »Schon der nächste Zahlungsverzug«, warnte der britische Währungswissenschaftler Thomas Balogh, »könnte einen Dominoeffekt auslösen, der dann zu einer Katastrophe führen müßte.«  
Daß die Gefahr eines solchen Bankenkrachs in den letzten Jahren enorm zugenommen hat, verdeutlicht folgende Entwicklung: während die Summe der ausstehenden Eurokredite im Zeitraum 1975 bis 1979 um 128 Prozent von 428 auf 979 Milliarden US-Dollar) anstieg, erhöhten sich die Einlagen lediglich um 18 Prozent (von 37,5 auf 44,4 Milliarden US-Dollar). Das Verhältnis der Einlagen zu den vergebenen Krediten von 1: 11 auf 1:22! Die Kombination: internationale Weltwirtschaftsrezession 1980/81/82 plus die Gefahr eines Bankenkrachs drängt Remineszenzen an die Weltwirtschaftskrise 1929 geradezu auf.  
Nach den jeweiligen Machtwechseln in Polen, 1956, 1970 und 1980 ließen die neuen Mächtigen jeweils ZK-Resolutionen verabschieden, die die zuvor verantwortlichen als »Kriminelle« und »in Sachen Wirtschaftsplanung Unfähige« abstempelten; nach den Aussagen der »führenden Partei der Arbeiterklasse«, der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), wurde Polen damit über drei Jahrzehnte lang von »verbrecherischen Elementen« regiert. Die Verschuldung Polens ist zweifellos der Sektor, auf dem dies am deutlichsten demonstriert wird. Sie hat inzwischen solche Ausmaße angenommen, daß sie entweder die Wirtschaft oder das Volk, möglicherweise alle beide erdrosseln muß. Selbst unter optimalen Bedingungen kann Polen inzwischen nicht mehr so viel in den Westen exportieren, wie an Zins und Tilgung pro Jahr bezahlt werden müßte (1981 rund 8 Milliarden Dollar). Von neuen, dringend benötigten Importen - ebenfalls zum Teil Resultat, der an Westtechnologie orientierten Industrialisierungspolitik - ganz zu schweigen .  
Nun sind 1981 die West-Exporte auf 5,6 Milliarden Dollar gesunken (z.T. sicher als Resultat der inneren Krise, aber auch als Resultat der kapitalistischen Krise). Die Folge sind neue Kredite und eine nochmals höhere Verschuldung. Die »Umschuldungen« selbst, die im Westen als »Geschenk an die Polen« verkauft werden, sind ebenfalls nichts anderes als neue Kredite: die Stundung von 2,5 Milliarden Dollar Tilgungsleistungen 1981 bis zum Jahr 1985 heißt im Klartext, daß damit Polen ein neuer Kredit über diese Summe gewährt wurde, der zur bisherigen Gesamtschuldensumme von 27 Mrd. Dollar hinzuzurechnen ist und voll verzinst werden muß.  
Damit ist ein Teufelskreis beschritten. Für 1982 meldete die polnische Regierung einen Bedarf von 10,5 Milliarden US-Dollar neue Kredite an, wenn die Wirtschaft einigermaßen im Lot gehalten werden soll. US-Banken brachten - nach dem Putsch - die Idee eines »Marshall-Plan« für Polen auf, wobei an 20 Milliarden Dollar neue Kredite gedacht ist.  
Wie kann es weitergehen? Im Prinzip gibt es drei Möglichkeiten:  
1. Der Teufelskreis wird auf revolutionärem Weg gesprengt, eine souverän herrschende und entscheidende polnische Arbeiterklasse kündigt diese Verträge auf und erklärt sich nur zu solchen Neuabmachungen bereit, die dem polnischen Volk ihren bis 1979 erreichten Lebensstandard und die sozialen Errungenschaften erhalten und deren weiteren Ausbau gestatten. Eine solche Lösung erfordert mehr als den Sieg der Arbeiter in Polen - sie ist nur im Rahmen einer massiven Solidarität der internationalen Arbeiterbewegung vorstellbar.  
2. Die polnische Wirtschaft kann im Würgegriff dieser Schulden so aus den Fugen geraten, daß sie entweder im Chaos versinkt oder einer echten Konterrevolution - Wiedererrichtung des Kapitalismus - den Boden bereitet.  
3. Das polnische Volk kann von der Militärdiktatur und den Westbanken - einschließlich des Internationalen Währungsfonds! - so in die Zange genommen werden, daß ein beträchtlicher Teil von Zins und Tilgung für die Westbanken buchstäblich mit polnischem Hunger und Elend erwirtschaftet wird. Den Rest soll bei diesem Lösungsmodell die UdSSR beisteuern. Das meint Ronald Reagan, wenn er von der »Verantwortung der UdSSR« für den Putsch in Polen spricht. Der »Daily Telegraph« formulierte am Tag nach dem Putsch unmißverständlich: »Die Banken sind der Überzeugung, daß ihre beste Waffe, um die Polen zu enormen Anstrengungen zu überreden, ihre Wirtschaft in den Griff zu bekommen, in der Drohung liegt, andernfalls jegliche zukünftige Finanzierung für den gesamten Ostblock zu verweigern. Dies hätte für alle betroffenen Länder katastrophale Folgen.«  
Gegenwärtig erleben wir den Versuch der Anwendung des Modells Nummer drei: Kriegsrecht, Ausschaltung aller elementaren demokratischen Rechte, massive Preiserhöhungen, noch knappere Rationierung, verlängerte Arbeitszeit und Anordnung von Arbeitszwang, Abwertung des Zloty... während gleichzeitig die UdSSR auf den internationalen Gold- und Währungsmärkten aktiv ist, und offensichtlich für einen Teil der ausstehenden polnischen Zinszahlungen aufkommen wird.  
Ob der Rubel tatsächlich von Moskau nach Warschau rollt und letztlich in New Yorker und Frankfurter Kassen klingeln wird, ob die Realisierung dieses Modells realistisch ist, ist eine andere Frage. Sicher ist, daß man hierauf in Moskau, Warschau und im Westen setzt.  
Geld stinkt nicht; Kredite verbreiten, gleichgültig wie und aus wem ihre Rückzahlung und Verzinsung herausgepreßt wird, in den Finanzzentren des Kapitalismus Wohlgeruch und Wohlgefallen. Die private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel Osteuropas, der UdSSR oder VR China mag man verloren haben - »der Kredit bietet dem Kapitalisten« jedoch , so schon Karl Marx, »eine innerhalb gewissen Schranken absolute Verfügungsgewalt über fremde Arbeit.«