Bücher sind Wege, die nirgendwohin führen, auf die man sich aber dennoch begeben muss (II) : Roberto Bolaños Gedichte: Die romantischen Hunde ... „Wenn wir genau hinhörten, könnten wir hören, wie die Türen der Geschichte zufallen / oder die Türen des Schicksals.“
Leseprobe aus:
Roberto Bolano
Die romantischen Hunde
Roberto Bolanos Gedichte – erstmals in einer deutschen Gesamtausgabe vereint. (Hanser)
Für Roberto Bolaño, den illusionslosesten und letzten Romantiker des 20. Jahrhunderts, war Dichtung seine wahre Berufung und die eigentliche Quelle aller Literatur. Seine Gedichte sind visionär und surreal, aberwitzig und melancholisch. Sie sind ein Loblied und zugleich ein Abgesang auf jene Generation der „romantischen Hunde“, die die Welt verändern wollte und unter die Räder kam:
„Wenn wir genau hinhörten, könnten wir hören, wie die Türen der Geschichte zufallen / oder die Türen des Schicksals.“
Die Kritiker sind unterschiedlich stark begeistert (Perlentaucher ); - treffend finde ich Ralph Hammerthalers Formulierung (Süddeutsche, hinter der paywall):
Diese Gedichte sind so großartig, weil sie nichts
feierlich Gedichtetes haben.
Formal spielen sie sich so
gut wie gar nicht auf.
Der Kopf wird unmittelbar
aufs Leben
gestoßen.
Bolaños Gedichte sind Schwestern
von Bolaños Prosa.
Doch wenn man aus einer Laune heraus
versucht,
einen Abschnitt Prosa
in ein Gedicht zu bringen,
indem man
geschickt
die Zeilen kappt,
stellt man fest,
dass es nicht funktioniert.
Schwestern sind eigensinnig.
Ein toller Gedanke; - nicht neu, denke ich an Born, Delius, Derschau, Theobaldy, Zahl u.a. (Lyrik-Katalog Bundesrepublik):
Gedichte können großartig sein, wenn sie nichts feierlich Gedichtetes haben, sich formal nicht sonderlich aufspielen und den Kopf unmittelbar aufs Leben stoßen!
Solch Lyrik wünsch ich mir - nicht Kunstgewerbe ...
Bücher sind Wege, die nirgendwohin führen, auf die man sich aber dennoch begeben muss ...
Roberto Bolano
Die romantischen Hunde
- DER WURM
Lasst uns danksagen für unsere Armut, sagte der zerlumpte Mann.
Mit eigenen Augen sah ich ihn: Er lungerte herum in einem Dorf mit
flachen Häusern aus Zement und Backsteinen, irgendwo zwischen
Mexiko und den USA.
Lasst uns danksagen für unsere Lust an der Gewalt, möge sie auch steril
wie ein Gespenst sein und zu gar nichts führen,
so wie diese Straßen, die auch nirgendwohin führen.
Ich sah ihn mit eigenen Augen: Er fuchtelte vor einem rosa Hintergrund
der schwarz nicht werden wollte, ach, ihr Dämmerungen an der Grenze,
gelesen und verloren ein für alle Mal.
Dämmerungen, die Lisas Vater einhüllten
Anfang der fünfziger Jahre.
Dämmerungen, die Mario Santiago vorüberfahren sahen,
auf und nieder, starr vor Kälte, auf dem Rücksitz
eines Schmugglerautos. Dämmerungen
endlos weiß und endlos schwarz.
Mit diesem Auge sah ich ihn: er sah aus wie ein Wurm mit Strohhut
und Killerblick
und er bereiste die Dörfer im Norden Mexikos
wie verloren, vom eigenen Geist verlassen
und von dem großen Traum, den alle träumten,
und seine Worte, mein Gott!, fürchterlich.
Er sah aus wie ein Wurm mit Strohhut,
Klamotten weiß
und Killerblick.
Und wie ein Kreisel fuhr er
durch die Dörfer im Norden Mexikos
aber ohne den Schritt zu wagen,
den Entschluss,
hinabzusteigen in die Hauptstadt.
Mit diesem Auge sah ich ihn
kommen und gehen
unter Hausierern und Betrunkenen,
gefürchtet,
das Wort, beschädigt von Straßen
mit Häusern aus Beton.
Er sah aus wie ein Wurm mit Strohhut
eine Bali zwischen den Lippen
oder eine filterlose Delicado.
Von einer Seite seiner Träume reiste er
zur anderen,
wie ein Erdwurm
der seine eigene Verzweiflung hinter sich her zerrt
und sie dabei frisst.
Weißer Wurm mit Strohhut
unter Nordmexikos Sonne,
in einer Erde, satt von Blut und Lügenworten
von der Grenze, Tor der Leichen, das Sam Peckinpah schon sah,
Tor des Ruhelosen Geistes, Peitsche aller Peitschen
und der verfluchte weiße Wurm, da war er,
mit seinem Strohhut und der Kippe,
die ihm von der Unterlippe hing, und immer mit dem ewig
gleichen Killerblick.
Ich sah ihn und ich sagte: im Kopf, da hab ich drei Geschwüre,
die Wissenschaft kann nichts mehr für mich tun.
Ich sah ihn, und ich sagte, aus dem Weg, du Wichser!
Die Poesie ist tapferer als alle,
die blutbespritzte Erde kann mich mal, der ruhelose Geist ...
Roberto Bolanos Gedichte – erstmals in einer deutschen Gesamtausgabe vereint. (Hanser)
Für Roberto Bolaño, den illusionslosesten und letzten Romantiker des 20. Jahrhunderts, war Dichtung seine wahre Berufung und die eigentliche Quelle aller Literatur. Seine Gedichte sind visionär und surreal, aberwitzig und melancholisch. Sie sind ein Loblied und zugleich ein Abgesang auf jene Generation der „romantischen Hunde“, die die Welt verändern wollte und unter die Räder kam:
„Wenn wir genau hinhörten, könnten wir hören, wie die Türen der Geschichte zufallen / oder die Türen des Schicksals.“
Die Kritiker sind unterschiedlich stark begeistert (Perlentaucher ); - treffend finde ich Ralph Hammerthalers Formulierung (Süddeutsche, hinter der paywall):
Diese Gedichte sind so großartig, weil sie nichts
feierlich Gedichtetes haben.
Formal spielen sie sich so
gut wie gar nicht auf.
Der Kopf wird unmittelbar
aufs Leben
gestoßen.
Bolaños Gedichte sind Schwestern
von Bolaños Prosa.
Doch wenn man aus einer Laune heraus
versucht,
einen Abschnitt Prosa
in ein Gedicht zu bringen,
indem man
geschickt
die Zeilen kappt,
stellt man fest,
dass es nicht funktioniert.
Schwestern sind eigensinnig.
Ein toller Gedanke; - nicht neu, denke ich an Born, Delius, Derschau, Theobaldy, Zahl u.a. (Lyrik-Katalog Bundesrepublik):
Gedichte können großartig sein, wenn sie nichts feierlich Gedichtetes haben, sich formal nicht sonderlich aufspielen und den Kopf unmittelbar aufs Leben stoßen!
Solch Lyrik wünsch ich mir - nicht Kunstgewerbe ...
Bücher sind Wege, die nirgendwohin führen, auf die man sich aber dennoch begeben muss ...
gebattmer - 2017/03/27 21:22
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