Anmerkung zum Erlernen der (deutschen) Sprache
Anlässlich der Sarrazin-Folgedebatten über die Integrazzion unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung der deutschen Sprache erinnere ich mich, dass Jurek Becker in seinen Frankfurter Vorlesungen 1989 unter dem Titel "Warnung vor dem Schriftsteller" zu dem Problem auf eine Weise sich geäußert hat, die einen zutiefst verstören kann, wenn man den Text genau zu lesen bereit ist:
Anfangen ... will ich mit einer eher privaten Mitteilung, mit der Darlegung eines Sachverhalts, der Ihnen nebensächlich erscheinen mag, der für mich jedoch, für mein Verhältnis zu Literatur ebenso wie für mein Bild von Sprache, größte Bedeutung hat: Deutsch ist nicht meine Muttersprache, ich komme vom Polnischen her. Erst mit acht, fast neun Jahren fing ich an, Deutsch zu lernen, mein Polnisch war da aber ganz und gar nicht das eines Neunjährigen. Es war im Sprachumfang eines Vierjährigen stecken geblieben, denn in diesem Alter wurde ich Umständen ausgesetzt, in denen Sprache so gut wie überflüssig war. Die ersten deutschen Vokabeln, an die ich mich erinnere, stammen aus jener Zeit: „Alles alle“, „Antreten - Zählappell!“ und „Dalli-dalli“.
Ich habe also die Sprache, die heute meine einzige ist, nie mit der Muttermilch, wie es heißt, eingesogen. Ich lernte sie nicht nebenbei, nicht beim Kinderspiel, nicht von Jahr zu Jahr entsprechend den Altersbedürfnissen, sondern als Resultat einer organisierten Anstrengung, so schnell wie möglich. 1946, mit neun Jahren, ging ich zum erstenmal in die Schule, einen Kopf größer als alle anderen. Für keine schulische Leistung belohnte mein Vater mich so reichlich wie für gute Noten bei Diktat und Aufsatz. Wir entwickelten gemeinsam ein übersichtliches Lohnsystem: Für eine geschriebene Seite gab es im Idealfall fünfzig Pfennig, jeder Fehler brachte einen Abzug von fünf Pfennig. So lernte ich nebenbei rechnen. In der ersten Zeit verdiente ich kaum etwas, obwohl ich in so großen Buchstaben schrieb, daß es an Betrug grenzte. Aber ich bin ehrgeizig. Manche Fehler konnte ich nicht vermeiden, weil ich es einfach nicht besser wußte; doch für die, die ich aus Vergeßlichkeit oder aus Flüchtigkeit beging, haßte ich mich. Ich konnte das jeweils nächste Diktat kaum erwarten, natürlich ging es von Mal zu Mal besser. Bald wurde die Sache meinem Vater zu teuer, und er handelte mich auf zehn Pfennig pro Fehler und später noch weiter nach oben.
Allerdings ging es mir nicht nur ums Geldverdienen. Je weniger Fehler ich beim Schreiben und beim Sprechen machte, umso mehr stieg mein Ansehen in der Schule. Oder genauer gesagt: um so mehr nahm die Verachtung ab. Es war ja nicht eben prestigeträchtig, zu den gestern noch Verfolgten zu gehören, und wenn man dazu noch als einziger weit und breit nicht richtig sprechen konnte und wenn man zu allem Unglück die Klassenkameraden - richtiger müßte ich sagen: die Klassenfeinde - um ein hübsches Stück überragte, dann brauchte man nicht lange nach Problemen zu suchen. Es war für mich beinahe eine Existenzfrage, so schnell wie möglich mein Deutsch zu verbessern: Je eher ich die Fehler ausmerzte, umso seltener wurden die anderen darauf gestoßen, daß ich ein Fremder war. Und wenn die Fehler ganz und gar aufhörten, würden sie mich eines Tages, wenn auch fälschlicherweise sogar für einen der ihren halten. Daß mein Vater die Sache auch noch hoch subventionierte, beschleunigte den Lernprozeß. Schon in der dritten Klasse machte ich nur noch solche Fehler, die keinem auffielen. Einmal habe ich in einem Interview kühn behauptet, diese Art des Lernens habe bei mir zu einem besonders bewußten Verhältnis zur Sprache geführt; wo andere plapperten, wo sie ihre Rede gleichsam bergab rollen ließen, da müßte ich mit einem gewissen Aufwand an Bewußtheit Regeln befolgen. Für einen Schriftsteller, so wagte ich zu schlußfolgern, sei das wahrscheinlich kein Nachteil. Heute weiß ich, daß ich Unsinn redete. Heute halte ich einen anderen Aspekt für erheblicher: daß es mir in der Schulzeit das größte Sprachglück bedeutete, Fehler zu vermeiden. Ich wollte ständig unter Beweis stellen, wie gut ich meine Lektion gelernt hatte, niemand sollte mich bei Unkorrektheiten ertappen und seine Schlüsse daraus ziehen.
Daß die Norm auch wie ein Vorhang sein, daß die Abweichung von der Norm auch etwas sichtbar machen kann das vorher regelrecht verdeckt war, kam mir natürlich nicht in den Sinn. Und heute habe ich Angst, daß dieser frühe Ehrgeiz mir so in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß ich ihn nicht mehr loswerde. Das wäre für einen Schriftsteller nun der schrecklichste Nachteil. Ich liebe ja solche Autoren, die Regeln verletzen, die Sprache zerbrechen, wie um nachzusehen, was drin ist. Das liegt mir nicht, und wenn ich es doch versuche, habe ich das Empfinden, mich zu verstellen. Mich packt der blanke Neid, wenn meine Frau zu mir sagt, ich solle endlich aufhören, sie zu bevormuttern...
Georg Seeßlen sieht das ( Z)erbrechen der Sprache aus anderer Perspektive:
Wir hören indes das Sprechen unserer Politikerinnen und Politiker und stellen fest: Weder beherrschen sie die Sprache, noch lieben sie sie. Ihr Jargon ist fremder noch als es jede fremde Sprache sein könnte, nämlich bezogen auf die Sprachlosigkeit der Leitmedien für die Leitkultur, BILD-Zeitung und Fernsehen. Da für sie die Sprache kein Verständigungs-, sondern ein Überredungsmittel ist, der Sprech-Gestus also bedeutender, die Sprache selber unwichtiger wird (man könnte sagen, es bliebe in dieser Performance gar nichts anderes übrig als der Akzent der Interessen), könnte man vom Sprechen unserer politischen Sprache wohl sagen, es sei ein umfängliches Projekt der Sprachzerstörung. Wenn Migranten so deutsch sprechen lernen sollten, wie es unsere Politiker tun, könnten sie das gleich vergessen. Dann lernten sie statt sprechen nichts sagen.
Doch die Leerheit der Unterwerfungspose „Sprache“ zeichnet sich erst durch die Umkehrung ab: Wie lernt man eine Sprache? Jeder Urlaubsreisende weiß es: Dadurch, dass man sie praktiziert, und dadurch, dass dieses Praktikum der fremden Sprache (komplett mit allen möglichen Akzenten) Spaß macht. Migranten in einem Land, die dessen Sprache nur unvollkommen oder widerwillig benutzen, sagen in allererster Linie etwas über dieses Land selber aus.
Und deutsch, das scheint eine Sprache, die nicht gesprochen werden will. Von „Fremden“ nicht, aber von Deutschen erst recht nicht.
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Erinnerungen: Frankreich 1971: Ich hatte in den Semesterferien während meiner Arbeit bei der Bahnpost (Pakete in Waggons stapeln - übrigens ein interessantes Bewältigungsmuster, das uns schnell beigebracht wurde: einen Waggon zu beladen geht wesentlich schneller, indem man neben der Waggontür eine Mauer aus Paketen baut und dann die übrigen dahinter schmeißt, als alle sorfältig zu stapeln ...) Studenten der Universität von Aix-en-Provence kennen gelernt, denen ich nach Beendigung unserer Stapelarbeiten nach Aix folgte.
Hier waren noch Semesterferien, die französischen Kommilitonen mussten - schon damals - zu Prüfungen zurück - und so konnte ich mit Leos alter Simca Ariane in der Umgebung von Aix lustwandeln, während Leo seine Prüfungen vorbereitete. Die Ariane verbrauchte mehr Öl als Benzin, aber das Wunderbare, das sie mir eröffnete, war in Dörfern vor der BarTabac zu parken, reinzugehen und ein Bier oder einen Pastis zu bestellen und dann (jetzt bin ich wieder bei Seeßlen), weil man ja draußen meine Ariane mit der 13er Nummer sah, damit fertig werden zu müssen, dass der Wirt oder der Gast neben mir an der Theke die letzten Neuigkeiten aus dem Dorf erzählte. Was ich als erstes lernte, war mein Schulfranzösisch von "oui" auf das provencalische "uoai" zu elaborieren ... Einige Tage später war ich schon in der Lage, mich in der SNCF auf der Rückfahrt von Marseille nach Aix mit einem Schaffner zu streiten, der einen jungen Algerier (wie ich annahm, heute würde man erstmal nur von einem Migrationshintergrund ausgehen) aus dem Zug werfen wollte. Das war keine Großtat und vielleicht auch falsch, weil der Bengel immer schwarz gefahren ist und irgendwann mal lernen musste, dass man Pakete gleich hinter der Tür stapelt und nicht an der Wand.
Aber Seeßlen hat recht: es muss Spaß machen, eine Sprache zu lernen - sonst wird das nichts. In diesem Sinne:
Anfangen ... will ich mit einer eher privaten Mitteilung, mit der Darlegung eines Sachverhalts, der Ihnen nebensächlich erscheinen mag, der für mich jedoch, für mein Verhältnis zu Literatur ebenso wie für mein Bild von Sprache, größte Bedeutung hat: Deutsch ist nicht meine Muttersprache, ich komme vom Polnischen her. Erst mit acht, fast neun Jahren fing ich an, Deutsch zu lernen, mein Polnisch war da aber ganz und gar nicht das eines Neunjährigen. Es war im Sprachumfang eines Vierjährigen stecken geblieben, denn in diesem Alter wurde ich Umständen ausgesetzt, in denen Sprache so gut wie überflüssig war. Die ersten deutschen Vokabeln, an die ich mich erinnere, stammen aus jener Zeit: „Alles alle“, „Antreten - Zählappell!“ und „Dalli-dalli“.
Ich habe also die Sprache, die heute meine einzige ist, nie mit der Muttermilch, wie es heißt, eingesogen. Ich lernte sie nicht nebenbei, nicht beim Kinderspiel, nicht von Jahr zu Jahr entsprechend den Altersbedürfnissen, sondern als Resultat einer organisierten Anstrengung, so schnell wie möglich. 1946, mit neun Jahren, ging ich zum erstenmal in die Schule, einen Kopf größer als alle anderen. Für keine schulische Leistung belohnte mein Vater mich so reichlich wie für gute Noten bei Diktat und Aufsatz. Wir entwickelten gemeinsam ein übersichtliches Lohnsystem: Für eine geschriebene Seite gab es im Idealfall fünfzig Pfennig, jeder Fehler brachte einen Abzug von fünf Pfennig. So lernte ich nebenbei rechnen. In der ersten Zeit verdiente ich kaum etwas, obwohl ich in so großen Buchstaben schrieb, daß es an Betrug grenzte. Aber ich bin ehrgeizig. Manche Fehler konnte ich nicht vermeiden, weil ich es einfach nicht besser wußte; doch für die, die ich aus Vergeßlichkeit oder aus Flüchtigkeit beging, haßte ich mich. Ich konnte das jeweils nächste Diktat kaum erwarten, natürlich ging es von Mal zu Mal besser. Bald wurde die Sache meinem Vater zu teuer, und er handelte mich auf zehn Pfennig pro Fehler und später noch weiter nach oben.
Allerdings ging es mir nicht nur ums Geldverdienen. Je weniger Fehler ich beim Schreiben und beim Sprechen machte, umso mehr stieg mein Ansehen in der Schule. Oder genauer gesagt: um so mehr nahm die Verachtung ab. Es war ja nicht eben prestigeträchtig, zu den gestern noch Verfolgten zu gehören, und wenn man dazu noch als einziger weit und breit nicht richtig sprechen konnte und wenn man zu allem Unglück die Klassenkameraden - richtiger müßte ich sagen: die Klassenfeinde - um ein hübsches Stück überragte, dann brauchte man nicht lange nach Problemen zu suchen. Es war für mich beinahe eine Existenzfrage, so schnell wie möglich mein Deutsch zu verbessern: Je eher ich die Fehler ausmerzte, umso seltener wurden die anderen darauf gestoßen, daß ich ein Fremder war. Und wenn die Fehler ganz und gar aufhörten, würden sie mich eines Tages, wenn auch fälschlicherweise sogar für einen der ihren halten. Daß mein Vater die Sache auch noch hoch subventionierte, beschleunigte den Lernprozeß. Schon in der dritten Klasse machte ich nur noch solche Fehler, die keinem auffielen. Einmal habe ich in einem Interview kühn behauptet, diese Art des Lernens habe bei mir zu einem besonders bewußten Verhältnis zur Sprache geführt; wo andere plapperten, wo sie ihre Rede gleichsam bergab rollen ließen, da müßte ich mit einem gewissen Aufwand an Bewußtheit Regeln befolgen. Für einen Schriftsteller, so wagte ich zu schlußfolgern, sei das wahrscheinlich kein Nachteil. Heute weiß ich, daß ich Unsinn redete. Heute halte ich einen anderen Aspekt für erheblicher: daß es mir in der Schulzeit das größte Sprachglück bedeutete, Fehler zu vermeiden. Ich wollte ständig unter Beweis stellen, wie gut ich meine Lektion gelernt hatte, niemand sollte mich bei Unkorrektheiten ertappen und seine Schlüsse daraus ziehen.
Daß die Norm auch wie ein Vorhang sein, daß die Abweichung von der Norm auch etwas sichtbar machen kann das vorher regelrecht verdeckt war, kam mir natürlich nicht in den Sinn. Und heute habe ich Angst, daß dieser frühe Ehrgeiz mir so in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß ich ihn nicht mehr loswerde. Das wäre für einen Schriftsteller nun der schrecklichste Nachteil. Ich liebe ja solche Autoren, die Regeln verletzen, die Sprache zerbrechen, wie um nachzusehen, was drin ist. Das liegt mir nicht, und wenn ich es doch versuche, habe ich das Empfinden, mich zu verstellen. Mich packt der blanke Neid, wenn meine Frau zu mir sagt, ich solle endlich aufhören, sie zu bevormuttern...
Georg Seeßlen sieht das ( Z)erbrechen der Sprache aus anderer Perspektive:
Wir hören indes das Sprechen unserer Politikerinnen und Politiker und stellen fest: Weder beherrschen sie die Sprache, noch lieben sie sie. Ihr Jargon ist fremder noch als es jede fremde Sprache sein könnte, nämlich bezogen auf die Sprachlosigkeit der Leitmedien für die Leitkultur, BILD-Zeitung und Fernsehen. Da für sie die Sprache kein Verständigungs-, sondern ein Überredungsmittel ist, der Sprech-Gestus also bedeutender, die Sprache selber unwichtiger wird (man könnte sagen, es bliebe in dieser Performance gar nichts anderes übrig als der Akzent der Interessen), könnte man vom Sprechen unserer politischen Sprache wohl sagen, es sei ein umfängliches Projekt der Sprachzerstörung. Wenn Migranten so deutsch sprechen lernen sollten, wie es unsere Politiker tun, könnten sie das gleich vergessen. Dann lernten sie statt sprechen nichts sagen.
Doch die Leerheit der Unterwerfungspose „Sprache“ zeichnet sich erst durch die Umkehrung ab: Wie lernt man eine Sprache? Jeder Urlaubsreisende weiß es: Dadurch, dass man sie praktiziert, und dadurch, dass dieses Praktikum der fremden Sprache (komplett mit allen möglichen Akzenten) Spaß macht. Migranten in einem Land, die dessen Sprache nur unvollkommen oder widerwillig benutzen, sagen in allererster Linie etwas über dieses Land selber aus.
Und deutsch, das scheint eine Sprache, die nicht gesprochen werden will. Von „Fremden“ nicht, aber von Deutschen erst recht nicht.
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Erinnerungen: Frankreich 1971: Ich hatte in den Semesterferien während meiner Arbeit bei der Bahnpost (Pakete in Waggons stapeln - übrigens ein interessantes Bewältigungsmuster, das uns schnell beigebracht wurde: einen Waggon zu beladen geht wesentlich schneller, indem man neben der Waggontür eine Mauer aus Paketen baut und dann die übrigen dahinter schmeißt, als alle sorfältig zu stapeln ...) Studenten der Universität von Aix-en-Provence kennen gelernt, denen ich nach Beendigung unserer Stapelarbeiten nach Aix folgte.
Hier waren noch Semesterferien, die französischen Kommilitonen mussten - schon damals - zu Prüfungen zurück - und so konnte ich mit Leos alter Simca Ariane in der Umgebung von Aix lustwandeln, während Leo seine Prüfungen vorbereitete. Die Ariane verbrauchte mehr Öl als Benzin, aber das Wunderbare, das sie mir eröffnete, war in Dörfern vor der BarTabac zu parken, reinzugehen und ein Bier oder einen Pastis zu bestellen und dann (jetzt bin ich wieder bei Seeßlen), weil man ja draußen meine Ariane mit der 13er Nummer sah, damit fertig werden zu müssen, dass der Wirt oder der Gast neben mir an der Theke die letzten Neuigkeiten aus dem Dorf erzählte. Was ich als erstes lernte, war mein Schulfranzösisch von "oui" auf das provencalische "uoai" zu elaborieren ... Einige Tage später war ich schon in der Lage, mich in der SNCF auf der Rückfahrt von Marseille nach Aix mit einem Schaffner zu streiten, der einen jungen Algerier (wie ich annahm, heute würde man erstmal nur von einem Migrationshintergrund ausgehen) aus dem Zug werfen wollte. Das war keine Großtat und vielleicht auch falsch, weil der Bengel immer schwarz gefahren ist und irgendwann mal lernen musste, dass man Pakete gleich hinter der Tür stapelt und nicht an der Wand.
Aber Seeßlen hat recht: es muss Spaß machen, eine Sprache zu lernen - sonst wird das nichts. In diesem Sinne:
gebattmer - 2010/10/20 21:35
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