Babij Jar, Jewgeni Jewtuschenko und Dmitiri Schostakowitschs 13. Sinfonie - «Над Бабьим Яром памятников нет. Крутой обрыв, как грубое надгробье.»
In Babij Jar – einer Schlucht in der Umgebung Kiews – wurden am 29. und 30. September 1941, mehr als 33.000 Juden von deutschen Einheiten (des SD und der Wehrmacht) erschossen. In den folgenden Tagen wurde weitere 20.000 Juden umgebracht. Bis zur Einnahme Kiews durch die Rote Armee im November 1943 fanden weitere Massenerschießungen statt, bei denen sowjetische Kriegsgefangene und etliche Zivilisten unterschiedlicher Nationalitäten getötet wurden. Insgesamt betrug die Anzahl der Opfer unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 150.000 bis 200.000 Tote.
Der Dichter Jewgeni Jewtuschenko wurde mit seinem 1961 in der Literaturnaya Gazeta erschienenen Gedicht Babij Jar auch im Westen bekannt. Das Gedicht Jewtuschenkos verarbeitete der Komponist Dmitiri Schostakowitsch in seiner 13. Sinfonie (13.sinfonie). Übersetzt wurde das Gedicht von Paul Celan. Paul Celan überlebte als einziger seiner Familie die deutsche Ausrottungspolitik und thematisierte als einer der ganz wenigen Autoren im Nachkriegsdeutschland die deutsche Vernichtungspolitik.
Unter der Leitung von Michael Sanderling hat die NDR Radiophilharmonie (heute und morgen) Dmitrij Schostakowitschs 13. Sinfonie im Programm. Den Solopart übernimmt der Bayreuth-erfahrene Bassist Günther Groissböck, ihm zur Seite steht der Nationale Männerchor aus der Chor-Republik Estland.
Das Konzert heute war großartig (das zweite Konzert am 12. Juni wird live auf NDR Kultur übertragen. Den Streamlink finden Sie vor Sendebeginn auf dieser Seite.)
Das Großartige an dieser 13. Sinfonie, das hier wieder aufschien, ist für mich, dass hier Musik nicht als "Programmmusik zum Massaker" gedacht/gemacht ist, sondern humanitären Werten einen würdigen, weil so vielschichtigen und auch widersprüchlichen Ausdruck verleiht, der vom Kampf gegen den Antisemitismus seinen Ausgang nimmt. Das Faszinierende an Jewtuschenkos Gedicht ist ja gerade, dass er nicht historisiert, sondern den Antisemitismus da ausmacht, wo er immer noch virulent ist. Wir würden aktuell - wie er 1961 - wohl sagen müssen: In der Mitte der Gesellschaft. Ich bin nicht sicher, ob die im Konzertsaal wohl mehrheitlich vertretene Mitte der Gesellschaft von der Musik so berührt wird, dass sie empfänglich wäre für die humanitären Werte, wenn es darum geht, die nicht nur als gefühlte zu genießen, sondern auch in alltäglicher Praxis zu leben. – Der Zuhörer könne Musik nicht bis ins Letzte verstehen, mit Worten gehe es eher, so Schostakowitsch. Das ist wohl so. Vertrauen wir also auf das Wort, hören und sehen Sie Jewgeni Jewtuschenkos - fasziniernd inszenierte - Rezitation seines Gesichts "Babi Yar" with music from Shostakovich Symphony No. 13:
View on YouTube
Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang – der eine, unbehauene Grabstein.
Mir ist angst.
Ich bin alt heute,
so alt wie das jüdische Volk.
Ich glaube, ich bin jetzt
ein Jude.
Wir ziehn aus Ägyptenland aus, ich zieh mit.
Man schlägt mich ans Kreuz, ich komm um,
und da, da seht ihr sie noch: die Spuren der Nägel.
Dreyfus, auch er,
das bin ich.
Der Spießer
denunziert mich,
der Philister
spricht mir das Urteil.
Hinter Gittern bin ich.
Umstellt.
Müdgehetzt.
Und bespien.
Und verleumdet.
Und es kommen Dämchen daher, mit Brüsseler Spitzen,
und kreischen
und stechen mir ins Gesicht
mit Sonnenschirmchen.
Ich glaube, ich bin jetzt,
ein kleiner Junge in Bialystok.
Das Blut fließt über die Diele, in Bächen.
Gestank von Zwiebel und Wodka, die Herren
Stammtisch-Häuptlinge lassen sich gehn.
Ein Tritt mit dem Stiefel, ich lieg in der Ecke.
Ich fleh die Pogrombrüder an, ich flehe – umsonst.
«Hau den Juden, rette Rußland!» -:
der Mehlhändler hat meine Mutter erschlagen.
Meinrussisches Volk!
Internationalistisch
bist du, zuinnerst, ich weiß.
Dein Name ist fleckenlos, aber
oft in Hände geraten, die waren nicht rein;
ein Rasselwort in diesen Händen, das war er.
Meine Erde – ich kenne sie, sie ist gut, sie ist gütig.
Und sie, die Antisemiten, die niederträchtigen,
daßsie großtun mit diesem Namen:
«Bund des russischen Volks»!
Und nicht beben und zittern!
Ich glaube, ich bin jetzt sie:
Anne Frank.
Licht-durchwoben, ein Zweig
im April.
Ich liebe.
Und brauche nicht Worte und Phrasen.
Und brauche:
daß du mich anschaust, daß ich dich anschau.
Wenig Sichtbares noch,
wenig Greifbares!
Die Blätter – verboten.
Der Himmel – verboten.
Aber einander umarmen, leise,
das dürfen, das können wir noch.
Sie kommen?
Fürchte dich nicht, was da kommt, ist der Frühling.
Er ist so laut, er ist unterwegs, hierher.
Rück näher.
Mit deinen Lippen. Wart nicht.
Sie rennen die Tür ein?
Nicht sie. Was du hörst, ist der Eisgang,
die Schneeschmelze draußen.
Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras.
Streng, so sieht dich der Baum am,
mit Richter-Augen.
Das Schweigen rings schreit.
Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle,
ich werde grau.
Und bin – bin selbst
ein einziger Schrei ohne Stimme
über tausend und aber
tausend Begrabene hin.
Jeder hier erschossene Greis -:
ich.
Jedes hier erschossene Kind -:
ich.
Nichts, keine Faser in mir,
vergißt das je!
Die Internationale —
ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer.
Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern.
Aber verhaßt bin ich allen Antisemiten.
Mit wütigem, schwieligem Haß,
so hassen sie mich –
wie einen Juden.
Und deshalb bin ich
ein wirklicher Russe.
Jewgeni Jewtuschenko 1961 (Übersetzt von Paul Celan)
+ Shostakovich Symphony No 13 B flat minor Babi Yar; Valery Gergiev conductor
+ Katja Petrowskaja Zum Jahrestag des Massakers: Spaziergang in Babij Jar (FAZ 29.09.2011)
+ 27. Januar: Das Rätsel der Leningrader Symphonie von Schostakowitsch
+ Update Ukraine - Unter besonderer Berücksichtigung der 778 Tage deutscher Besetzung Kiews
+ Latest Update Ukraine: Kiew stellt nun Kritik an den eigenen Nazis unter Strafe (Harald Neuber, tp 07.06.2015)
+ Für Spezialisten: Über Marx und die Judenfrage und den Zusammenhang von deutschem Arbeitswahn und Antisemitismus (Audioarchiv kritischer Theorie & Praxis)
Der Dichter Jewgeni Jewtuschenko wurde mit seinem 1961 in der Literaturnaya Gazeta erschienenen Gedicht Babij Jar auch im Westen bekannt. Das Gedicht Jewtuschenkos verarbeitete der Komponist Dmitiri Schostakowitsch in seiner 13. Sinfonie (13.sinfonie). Übersetzt wurde das Gedicht von Paul Celan. Paul Celan überlebte als einziger seiner Familie die deutsche Ausrottungspolitik und thematisierte als einer der ganz wenigen Autoren im Nachkriegsdeutschland die deutsche Vernichtungspolitik.
Unter der Leitung von Michael Sanderling hat die NDR Radiophilharmonie (heute und morgen) Dmitrij Schostakowitschs 13. Sinfonie im Programm. Den Solopart übernimmt der Bayreuth-erfahrene Bassist Günther Groissböck, ihm zur Seite steht der Nationale Männerchor aus der Chor-Republik Estland.
Das Konzert heute war großartig (das zweite Konzert am 12. Juni wird live auf NDR Kultur übertragen. Den Streamlink finden Sie vor Sendebeginn auf dieser Seite.)
Das Großartige an dieser 13. Sinfonie, das hier wieder aufschien, ist für mich, dass hier Musik nicht als "Programmmusik zum Massaker" gedacht/gemacht ist, sondern humanitären Werten einen würdigen, weil so vielschichtigen und auch widersprüchlichen Ausdruck verleiht, der vom Kampf gegen den Antisemitismus seinen Ausgang nimmt. Das Faszinierende an Jewtuschenkos Gedicht ist ja gerade, dass er nicht historisiert, sondern den Antisemitismus da ausmacht, wo er immer noch virulent ist. Wir würden aktuell - wie er 1961 - wohl sagen müssen: In der Mitte der Gesellschaft. Ich bin nicht sicher, ob die im Konzertsaal wohl mehrheitlich vertretene Mitte der Gesellschaft von der Musik so berührt wird, dass sie empfänglich wäre für die humanitären Werte, wenn es darum geht, die nicht nur als gefühlte zu genießen, sondern auch in alltäglicher Praxis zu leben. – Der Zuhörer könne Musik nicht bis ins Letzte verstehen, mit Worten gehe es eher, so Schostakowitsch. Das ist wohl so. Vertrauen wir also auf das Wort, hören und sehen Sie Jewgeni Jewtuschenkos - fasziniernd inszenierte - Rezitation seines Gesichts "Babi Yar" with music from Shostakovich Symphony No. 13:
View on YouTube
Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang – der eine, unbehauene Grabstein.
Mir ist angst.
Ich bin alt heute,
so alt wie das jüdische Volk.
Ich glaube, ich bin jetzt
ein Jude.
Wir ziehn aus Ägyptenland aus, ich zieh mit.
Man schlägt mich ans Kreuz, ich komm um,
und da, da seht ihr sie noch: die Spuren der Nägel.
Dreyfus, auch er,
das bin ich.
Der Spießer
denunziert mich,
der Philister
spricht mir das Urteil.
Hinter Gittern bin ich.
Umstellt.
Müdgehetzt.
Und bespien.
Und verleumdet.
Und es kommen Dämchen daher, mit Brüsseler Spitzen,
und kreischen
und stechen mir ins Gesicht
mit Sonnenschirmchen.
Ich glaube, ich bin jetzt,
ein kleiner Junge in Bialystok.
Das Blut fließt über die Diele, in Bächen.
Gestank von Zwiebel und Wodka, die Herren
Stammtisch-Häuptlinge lassen sich gehn.
Ein Tritt mit dem Stiefel, ich lieg in der Ecke.
Ich fleh die Pogrombrüder an, ich flehe – umsonst.
«Hau den Juden, rette Rußland!» -:
der Mehlhändler hat meine Mutter erschlagen.
Meinrussisches Volk!
Internationalistisch
bist du, zuinnerst, ich weiß.
Dein Name ist fleckenlos, aber
oft in Hände geraten, die waren nicht rein;
ein Rasselwort in diesen Händen, das war er.
Meine Erde – ich kenne sie, sie ist gut, sie ist gütig.
Und sie, die Antisemiten, die niederträchtigen,
daßsie großtun mit diesem Namen:
«Bund des russischen Volks»!
Und nicht beben und zittern!
Ich glaube, ich bin jetzt sie:
Anne Frank.
Licht-durchwoben, ein Zweig
im April.
Ich liebe.
Und brauche nicht Worte und Phrasen.
Und brauche:
daß du mich anschaust, daß ich dich anschau.
Wenig Sichtbares noch,
wenig Greifbares!
Die Blätter – verboten.
Der Himmel – verboten.
Aber einander umarmen, leise,
das dürfen, das können wir noch.
Sie kommen?
Fürchte dich nicht, was da kommt, ist der Frühling.
Er ist so laut, er ist unterwegs, hierher.
Rück näher.
Mit deinen Lippen. Wart nicht.
Sie rennen die Tür ein?
Nicht sie. Was du hörst, ist der Eisgang,
die Schneeschmelze draußen.
Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras.
Streng, so sieht dich der Baum am,
mit Richter-Augen.
Das Schweigen rings schreit.
Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle,
ich werde grau.
Und bin – bin selbst
ein einziger Schrei ohne Stimme
über tausend und aber
tausend Begrabene hin.
Jeder hier erschossene Greis -:
ich.
Jedes hier erschossene Kind -:
ich.
Nichts, keine Faser in mir,
vergißt das je!
Die Internationale —
ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer.
Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern.
Aber verhaßt bin ich allen Antisemiten.
Mit wütigem, schwieligem Haß,
so hassen sie mich –
wie einen Juden.
Und deshalb bin ich
ein wirklicher Russe.
Jewgeni Jewtuschenko 1961 (Übersetzt von Paul Celan)
+ Shostakovich Symphony No 13 B flat minor Babi Yar; Valery Gergiev conductor
+ Katja Petrowskaja Zum Jahrestag des Massakers: Spaziergang in Babij Jar (FAZ 29.09.2011)
+ 27. Januar: Das Rätsel der Leningrader Symphonie von Schostakowitsch
+ Update Ukraine - Unter besonderer Berücksichtigung der 778 Tage deutscher Besetzung Kiews
+ Latest Update Ukraine: Kiew stellt nun Kritik an den eigenen Nazis unter Strafe (Harald Neuber, tp 07.06.2015)
+ Für Spezialisten: Über Marx und die Judenfrage und den Zusammenhang von deutschem Arbeitswahn und Antisemitismus (Audioarchiv kritischer Theorie & Praxis)
gebattmer - 2015/06/11 23:34
Trackback URL:
https://gebattmer.twoday.net/stories/1022445366/modTrackback