Wohlfahrtsstaat - Nachtrag anlässlich der Koalitionsverhandlungen
Mitten in der Nacht klingelte das Telefon bei Jörg Asmussen. Der Anrufer aus New York, ein Angestellter der Investmentbank Goldman Sachs, wollte von dem Referenten des deutschen Finanzministers wissen, ob er die Mitteilungen aus Berlin richtig verstanden habe. Ob es stimme, daß deutsche Kapitalgesellschaften künftig keine Steuern mehr auf die Gewinne zahlen müßten, die sie beim Verkauf von Aktienpaketen oder ganzen Tochterunternehmen erzielen. Der Beamte bestätigte die Information.
Die Banker aus Amerika waren die ersten, die dem Coup der Bundesregierung auf die Spur kamen. Sie hatten das tags zuvor in Berlin verteilte Pressematerial sorgfältig analysiert und später ihre Kunden informiert. Über Nachrichtenagenturen kam die Meldung zurück nach Deutschland - und löste dort einen Börsenboom aus. Der Aktienindex Dax stieg allein an einem Tag um 4,5 Prozent. Vor allem die Kurse von Banken und Versicherungen schossen in die Höhe. Börsianer im Freudentaumel. Die Überraschung war perfekt. Ausgerechnet eine SPD-geführte Regierung erfüllte die Wünsche der Wirtschaft in einem Maße, wie es sich die Manager kaum je erträumt hatten. Kein Wunder, daß Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle und Deutsche-Bank-Sprecher Rolf E. Breuer voll des Lobes für Rot-Grün waren. Allein in ihren Bilanzen steckten hohe zweistellige Milliardensummen an stillen Reserven. Sie hofften, nun diese Schätze steuerfrei heben zu können. Selbst die Urheber des Kursfeuerwerks waren perplex: Die Regierung hatte die Wirkung ihres Tuns völlig verkannt. Das war aber noch die harmloseste Fehleinschätzung bei der Unternehmenssteuerreform, wie sich später herausstellte. Vor allem bei den Steuerausfällen hat-ten sich Finanzminister Hans Eichel und seine Beamten völlig verkalkuliert. Noch im Jahr 2000 kassierte der Staat 23,6 Milliarden Euro Körperschaftssteuer von den Kapitalgesellschaften. Im Jahr darauf, nach dem Inkrafttreten des Reformwerks, brachen diese Einnahmen vollkommen weg. Per saldo mußten die Finanzämter sogar fast eine halbe Milliarde Euro an die Firmen auszahlen - das hatte es noch nie gegeben.
8. September, "Die Zeit" via KONKRET
gebattmer - 2005/10/28 16:44
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