Nachlese: Vom Botoxen der Großhirnrinde
Schon im Freitag vom 30.06. - aber zu Beginn des Schuljahres in Niedersachsen hübsch passend - schrieb Wieland Elfferding über eine notwendige, aber unmögliche Reform des Gymnasiums:
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Nebenbei dürfte nun der letzte merken, dass die noch vor Jahren von Gymnasialvertretern begrüßte Verkürzung der Schulzeit zur Schraubzwinge für nicht wenige Schulen wird. Nun heißt es süffisant, das Abitur in zwölf Jahren könnten sowieso nur die Besten schaffen. Die bildungsbeflissenen Eltern sind mittlerweile aufgewacht und bemerken, was sie schon vor fünf Jahren hätten wissen können: Werden die in der 11. Klasse verlorenen Stunden nach unten umverteilt, kommt fast jeden Tag eine Stunde dazu und Sohn oder Tochter kommen nach Cello- und Segelunterricht um 19 Uhr nach Hause, wenn Mutti schon wieder zum Yogakurs aufbricht. Interessierten sich diese Eltern noch für die laufenden Unterrichtsreformen, so stießen sie auf einen bemerkenswerten Widerspruch: Die methodischen Veränderungen zielen alle auf einen höheren Grad an Selbständigkeit der Lernenden ab, auf eigene Entwicklung von Interessen und Aufgaben – etwa in der Vorbereitung der Präsentationsprüfungen im Mittleren Schulabschluss wie beim Abitur –, auf Selbsttätigkeit statt Befolgung von Lehrervorschriften. Was derartiges Lernen braucht, ist Zeit. Keine Verdichtung der Schuljahre, keine Erhöhung des Leistungsdrucks.
Nun sind Zweifel daran berechtigt, dass derlei Beobachtungen allzu tief in die bildungsnahen Schichten eindringen. Schließlich sind diese nach Lektüre von Ergebnissen der Hirnforschung oft besessen von der Idee, ihre Kinder hätten Chancen etwa des Sprachenerwerbs bereits versäumt und müssten sich mächtig ranhalten, um mit der sich selbst beschleunigenden Generation Schritt halten zu können. Es könnten sogar Zweifel daran aufkommen, dass die heute meinungsbildende Elterngeneration noch lebendige Beziehungen zur Gutenberggalaxis unterhält. Wir sprechen von der Generation, welche die Reduktion des Textanteils ihrer Tageszeitung in den vergangenen zehn Jahren um 20 bis 30 Prozent klaglos hingenommen hat. Wir sprechen von denjenigen, die ihre Kinder in der Woche durch fünf verschiedene Freizeitbeschäftigungen jagen, die oft verdeckte Schulfächer darstellen; von denjenigen, die nervös werden, wenn es nach dem Regionalwettbewerb „Jugend forscht“ und „-musiziert“ nicht weitergeht.
Es ist das Bürgertum, das, anders als seine Elterngeneration, den Grundsatz multum, non multa – viel, nicht vielerlei solle man lernen – nicht mehr kennt und längst ins postmetaphysische Zeitalter eingetreten ist, in dem es keine Tiefen, sondern nur Oberflächen gibt. Bei ihm löst die Vorstellung eines Bildungserlebnisses, in dem man sich verlieren kann und als Anderer wieder herauskommt, also die Vorstellung von Brüchen und Veränderungen, die riskant sind und Zeit brauchen, einen horror vacui aus. Diesen Menschen erschließt sich ein Zusammenhang durch eine Abfolge von Folien oder auch nicht. Sie husten, völlig unerkältet, im Konzert, wenn es leise, langsam und kompliziert wird. Bildung betrachten sie als eine Dienstleistung wie eine Schönheitsoperation. Kommt beim Botoxen der Großhirnrinde durch die pädagogischen Operateure nicht das gewünschte Ergebnis heraus, muss über Regressforderungen nachgedacht werden.
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Sehr treffend! Siehe auch: Wilfried Bos: "Wer das Gymnasium abschaffen will, wird abgewählt"
Zum Schulanfang - Nachtrag:
via Pathway To Unknown Worlds
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Nebenbei dürfte nun der letzte merken, dass die noch vor Jahren von Gymnasialvertretern begrüßte Verkürzung der Schulzeit zur Schraubzwinge für nicht wenige Schulen wird. Nun heißt es süffisant, das Abitur in zwölf Jahren könnten sowieso nur die Besten schaffen. Die bildungsbeflissenen Eltern sind mittlerweile aufgewacht und bemerken, was sie schon vor fünf Jahren hätten wissen können: Werden die in der 11. Klasse verlorenen Stunden nach unten umverteilt, kommt fast jeden Tag eine Stunde dazu und Sohn oder Tochter kommen nach Cello- und Segelunterricht um 19 Uhr nach Hause, wenn Mutti schon wieder zum Yogakurs aufbricht. Interessierten sich diese Eltern noch für die laufenden Unterrichtsreformen, so stießen sie auf einen bemerkenswerten Widerspruch: Die methodischen Veränderungen zielen alle auf einen höheren Grad an Selbständigkeit der Lernenden ab, auf eigene Entwicklung von Interessen und Aufgaben – etwa in der Vorbereitung der Präsentationsprüfungen im Mittleren Schulabschluss wie beim Abitur –, auf Selbsttätigkeit statt Befolgung von Lehrervorschriften. Was derartiges Lernen braucht, ist Zeit. Keine Verdichtung der Schuljahre, keine Erhöhung des Leistungsdrucks.
Nun sind Zweifel daran berechtigt, dass derlei Beobachtungen allzu tief in die bildungsnahen Schichten eindringen. Schließlich sind diese nach Lektüre von Ergebnissen der Hirnforschung oft besessen von der Idee, ihre Kinder hätten Chancen etwa des Sprachenerwerbs bereits versäumt und müssten sich mächtig ranhalten, um mit der sich selbst beschleunigenden Generation Schritt halten zu können. Es könnten sogar Zweifel daran aufkommen, dass die heute meinungsbildende Elterngeneration noch lebendige Beziehungen zur Gutenberggalaxis unterhält. Wir sprechen von der Generation, welche die Reduktion des Textanteils ihrer Tageszeitung in den vergangenen zehn Jahren um 20 bis 30 Prozent klaglos hingenommen hat. Wir sprechen von denjenigen, die ihre Kinder in der Woche durch fünf verschiedene Freizeitbeschäftigungen jagen, die oft verdeckte Schulfächer darstellen; von denjenigen, die nervös werden, wenn es nach dem Regionalwettbewerb „Jugend forscht“ und „-musiziert“ nicht weitergeht.
Es ist das Bürgertum, das, anders als seine Elterngeneration, den Grundsatz multum, non multa – viel, nicht vielerlei solle man lernen – nicht mehr kennt und längst ins postmetaphysische Zeitalter eingetreten ist, in dem es keine Tiefen, sondern nur Oberflächen gibt. Bei ihm löst die Vorstellung eines Bildungserlebnisses, in dem man sich verlieren kann und als Anderer wieder herauskommt, also die Vorstellung von Brüchen und Veränderungen, die riskant sind und Zeit brauchen, einen horror vacui aus. Diesen Menschen erschließt sich ein Zusammenhang durch eine Abfolge von Folien oder auch nicht. Sie husten, völlig unerkältet, im Konzert, wenn es leise, langsam und kompliziert wird. Bildung betrachten sie als eine Dienstleistung wie eine Schönheitsoperation. Kommt beim Botoxen der Großhirnrinde durch die pädagogischen Operateure nicht das gewünschte Ergebnis heraus, muss über Regressforderungen nachgedacht werden.
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Sehr treffend! Siehe auch: Wilfried Bos: "Wer das Gymnasium abschaffen will, wird abgewählt"
Zum Schulanfang - Nachtrag:
via Pathway To Unknown Worlds
gebattmer - 2009/07/30 20:48
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