Mich wundert, daß ich so fröhlich bin - oder: Prothesengotts Prothesenhaupt revisited - oder: Falsch Gm8 IV
Herr K. erinnerte mich kürzlich an eine sehr treffende Formulierung Peter von Matts, auf die ich ihn wohl Ende der 90er aufmerksam gemacht hatte. In dem Aufsatz "Kultur und Gechwindigkeit - Überlegungen vor einem namenlosen Gedicht" (aus dem Jahre 1996) fragt sich von Matt, welche Antworten auf welche Fragen wohl vom beschleunigten Gehirn des Prothesengotts (m . a. W. vom www) erwartet werden können. Er verdeutlicht sein Unbehagen mit einem kleinen Gedankenspiel zu diesem namenlosen Gedicht (für das er als Quelle einen Brief des in die Schweiz geflohenen Heinrich von Kleist angibt, in dem es heißt, er - Kleist - habe es als Inschrift an einem Haus in seiner Straße gefunden):
Könnte ich nicht im Internet eine Homepage eröffnen mit allen Daten zu meiner Person und abschließen mit dem Vers:Ich komme, ich weiß nicht, von wo?
Und könnte ich dann von den vernetzten Forschungsstellen, Wissenscontainern und Datenbanken nicht die erwünschte Information abrufen über den Grund dieser meiner Fröhlichkeit?
Vielleicht bekäme ich tatsächlich eine Antwort. Etwa so:
„Auch bei orientierungsgestörten Personen können kurzfristige euphorische Zustände regulär auftreten.“
Das wäre unstreitig eine Rückmeldung. Aber ob sie nun so oder etwas anders lauten würde, ich könnte mit ihr in jedem Fall weit weniger anfangen als mit der Frage selbst. Und damit ist der entscheidende Punkt berührt. Offenbar gibt es zweierlei Fragen. Solche, auf die ich mit einer Information antworten kann, und solche, auf die ich nicht mit einer Information antworten kann. Beide haben mit Unwissenheit zu tun, aber die Aufhebung dieser Unwissenheit, der Gewinn von Erkenntnis, läuft jedesmal verschieden ab. Wo es um Information geht, kann die Aufhebung der Unwissenheit beschleunigt werden, und zwar nahezu unbegrenzt, wie sich heute zeigt. Bei den Fragen der anderen Art indessen - also beispielsweise gegenüber dem Satz: „Mich wundert, daß ich so fröhlich bin“ - gibt es keine Möglichkeit zur Beschleunigung der Erkenntnis. Und genau das ist der Skandal solcher Fragen und solcher Sätze, es ist der Skandal nicht nur jener kleinen Gedichte, sondern alles dessen, was mit ihnen im weitesten Sinne verwandt ist. Sie entziehen sich der offiziellen Geschwindigkeit der Zivilisation.
Die neuere Begegnung mit von Matts Gedanken lies mich an den Kurzschluss denken, der der jüngsten Reform (nicht nur der) gymnasialen Oberstufe zu grunde liegt: Information + Kompetenz ergebe so etwas wie Bildung. Mitnichten: Es ergibt statt Erkenntnis eben jene Information, dass auch bei orientierungsgestörten Personen kurzfristige euphorische Zustände regulär auftreten können, die eben keine Frage beantwortet ...
Als ein anderes Beispiel jener skandalösen kleinen Gedichte zitiert von Matt Bertolt BrechtsDer Radwechsel
Die Ergebnisse der Google-Suche nach dem Text offenbaren das Problem, das von Matt so scharfsinnig benennt: Die Verwurstung von Literatur zur Texterschließungskompetenz, die Unterwerfung der Suche nach Antworten unter die offizielle Geschwindigkeit der Zivilisation, die Erzeugung der Illusion der Aufhebbarkeit von Unwissenheit ... (mit Ausnahme von - das muss gesagt werden -: norberto, der sich seinem Motto "Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens" gemäß dem Gedicht nähert).
Peter von Matt
Die verdächtige Pracht
Über Dichter und Gedichte
Könnte ich nicht im Internet eine Homepage eröffnen mit allen Daten zu meiner Person und abschließen mit dem Vers:
Ich komme, ich weiß nicht, von wo?
Ich bin, ich weiß nicht, was?
Ich fahre, ich weiß nicht, wohin?
Mich wundert, daß ich so fröhlich bin.
Und könnte ich dann von den vernetzten Forschungsstellen, Wissenscontainern und Datenbanken nicht die erwünschte Information abrufen über den Grund dieser meiner Fröhlichkeit? Vielleicht bekäme ich tatsächlich eine Antwort. Etwa so:
„Auch bei orientierungsgestörten Personen können kurzfristige euphorische Zustände regulär auftreten.“
Das wäre unstreitig eine Rückmeldung. Aber ob sie nun so oder etwas anders lauten würde, ich könnte mit ihr in jedem Fall weit weniger anfangen als mit der Frage selbst. Und damit ist der entscheidende Punkt berührt. Offenbar gibt es zweierlei Fragen. Solche, auf die ich mit einer Information antworten kann, und solche, auf die ich nicht mit einer Information antworten kann. Beide haben mit Unwissenheit zu tun, aber die Aufhebung dieser Unwissenheit, der Gewinn von Erkenntnis, läuft jedesmal verschieden ab. Wo es um Information geht, kann die Aufhebung der Unwissenheit beschleunigt werden, und zwar nahezu unbegrenzt, wie sich heute zeigt. Bei den Fragen der anderen Art indessen - also beispielsweise gegenüber dem Satz: „Mich wundert, daß ich so fröhlich bin“ - gibt es keine Möglichkeit zur Beschleunigung der Erkenntnis. Und genau das ist der Skandal solcher Fragen und solcher Sätze, es ist der Skandal nicht nur jener kleinen Gedichte, sondern alles dessen, was mit ihnen im weitesten Sinne verwandt ist. Sie entziehen sich der offiziellen Geschwindigkeit der Zivilisation.
Die neuere Begegnung mit von Matts Gedanken lies mich an den Kurzschluss denken, der der jüngsten Reform (nicht nur der) gymnasialen Oberstufe zu grunde liegt: Information + Kompetenz ergebe so etwas wie Bildung. Mitnichten: Es ergibt statt Erkenntnis eben jene Information, dass auch bei orientierungsgestörten Personen kurzfristige euphorische Zustände regulär auftreten können, die eben keine Frage beantwortet ...
Als ein anderes Beispiel jener skandalösen kleinen Gedichte zitiert von Matt Bertolt Brechts
Der Radwechsel
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?
Die Ergebnisse der Google-Suche nach dem Text offenbaren das Problem, das von Matt so scharfsinnig benennt: Die Verwurstung von Literatur zur Texterschließungskompetenz, die Unterwerfung der Suche nach Antworten unter die offizielle Geschwindigkeit der Zivilisation, die Erzeugung der Illusion der Aufhebbarkeit von Unwissenheit ... (mit Ausnahme von - das muss gesagt werden -: norberto, der sich seinem Motto "Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens" gemäß dem Gedicht nähert).Peter von Matt
Die verdächtige Pracht
Über Dichter und Gedichte
gebattmer - 2010/08/25 18:42
Trackback URL:
https://gebattmer.twoday.net/stories/6482152/modTrackback