Anti-Presence (re I&II): »Wir sind alle Cyborgs«
Interview mit dem britischen Kulturkritiker Mark Fisher über Chancen zur Wiederbelebung der Linken in Zeiten der Digitalisierung, Depression und Ego-Optimierung (KONKRET 7/2014)
■ Mark Fisher: „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift“. Aus dem Englischen von Christian Werthschulte u. a. VSA-Verlag, Hamburg 2013, 117 Seiten, 12,80 Euro
- KONKRET: Wir sitzen hier in so einer typischen Hotelkettenlobby, wie es sie überall auf der Welt gibt. In der Reflexion über die »langsame Abschaffung der Zukunft«, mit der Ihr neues Buch beginnt, weisen Sie auf die Ausbreitung solcher gesichtsloser Transitzonen hin. Was an diesen Nicht-Orten ist bezeichnend für die Gegenwart?
Fisher: Wenn es eine Erfahrung des 21. Jahrhunderts gibt, dann die des Nicht-Ortes. Er unterscheidet sich nicht von anderen Orten, hat keine Kennzeichen. Bei der Zeit entwickelt es sich ähnlich. Es wird immer schwieriger, ein Jahr vom anderen zu unterscheiden. Epochen ähneln einander, man bewegt sich durch die Geschichte wie von Flughafen zu Flughafen, von Einkaufscenter zu Einkaufscenter. So wie man irgendwo sein kann, kann man irgendwann sein.
Liegt das an fehlenden kulturellen Markierungen?
Es liegt an fehlenden Zeitmarkierungen. Im 20. Jahrhundert war es üblich, eine bestimmte Epoche durch Musik aufzurufen. Im Dokumentarfilm wurde das sogar zum Klischee. Musik war zeitcodiert, das ist heute schwierig geworden. Ich habe eine deutliche Vorstellung davon, wie 1974 klang oder 1984. Aber wie klingt der Sound von 2008? Wie der von 2004? Ich könnte das recherchieren, aber es hat sich nicht so festgesetzt wie bei früheren Zeitabschnitten.
Die Musik haftete quasi an wichtigen Ereignissen. Es war, als wenn sie nur aus dieser und keiner anderen Zeit hätte kommen können. In den Neunzigern brach das ein. Neulich, als meine Frau und ich im Fernsehen eine Dokumentation über 1995 sahen, fiel uns auf, wie wenig sich geändert hat. Die popkulturelle Landkarte ist heute im wesentlichen die gleiche. Boy Bands, Gossip Culture – und das, obwohl so viel passiert ist: der 11. September, der Wandel unseres Alltagslebens, digitale Kommunikation usw. Auf kultureller Ebene scheinen diese Umbrüche nicht registriert worden zu sein.
Wenn wir über Musikkultur reden, haben die Schlüsselereignisse des 21. Jahrhunderts bei Konsum und Distribution stattgefunden. Aber die digitale Revolution hat keine Auswirkungen auf die Musik, nur auf unseren Zugang zu ihr. Das hat einen großen, wenn nicht traumatischen Effekt auf die Musikkultur gehabt. Das Einkommensmodell, auf das Musiker angewiesen waren, ist heute ausgelöscht oder tendiert dazu.
Auf der anderen Seite ist Musik so billig zu produzieren und so einfach zu vertreiben wie niemals zuvor, Sie brauchen keine Plattenfirma mehr.
Genau. Man fragt sich, warum es keinen Kreativitätsschub gibt. Weil Sie noch immer Zeit brauchen, die Möglichkeit, sich zu versenken, um kreativ zu sein. Und Sie brauchen ein Publikum, das sich absorbieren läßt. Aber niemand von uns hat Zeit, sich von irgend etwas absorbieren zu lassen. Und wenn wir die Zeit zum Absorbiertwerden erzwingen, müssen wir mit all unseren Gewohnheiten brechen, die wir in den vergangenen zehn Jahren angenommen und in den letzten fünf – mit dem Aufkommen von Smartphones – noch intensiviert haben.
Im Rückblick ist das 21. Jahrhundert für die Musikkultur eine Katastrophe gewesen. Kultur braucht gemeinsamen Raum und gemeinsame Zeit. Und wir haben eine Krise des öffentlichen Raumes, der zunehmend kommerzialisiert ist, und eine Krise der öffentlichen Zeit. Der Druck der Bedürfnisse aus dem Cyberspace, dies und das zu hören, ist immer größer geworden und unmöglich zu erfüllen...
■ Mark Fisher: „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift“. Aus dem Englischen von Christian Werthschulte u. a. VSA-Verlag, Hamburg 2013, 117 Seiten, 12,80 Euro
gebattmer - 2014/07/05 18:36
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