»Gouvernementalität« oder die »Regierung der Menschen«: Was ist ein Dispositiv?
Ab Mitte der 70er Jahre, als sich Foucault mit dem zu beschäftigen begann, was er »Gouvernementalität« oder die »Regierung der Menschen« nannte, verwendet er sehr häufig den Begriff »Dispositiv«:
zitiert nach Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv?
Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko, 48 Seiten, Diaphanes, Berlin 2008
Aus der Verlagsankündigung:
Einen Versuch unternimmt Georg Seeßlen in seinem taz-Kommentar vom 27. 8. 2015:
Ein Herr Herrmann, Bayerns Innenminister, bei Frau Illner:
"Ich hoffe, Sie meinen es nicht so bös', aber es ist eine Beleidigung der Vertriebenen, der wirklich damals vor 70 Jahren Vertriebenen, die in diesen Kontext zu stellen."
I.Ü. müsste man allerdings einwenden, dass die ersten Opfer eliminatorischer Gewalt immer Menschen sind (wie schon der gern zitierte Satz „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“ eigentlich idealistsches dummes Zeug ist) und so wäre zu fragen, wie zum Schutz der Menschen Vernunft, Menschlichkeit und also Diskurs gegen das hegemoniale Dispositiv in Stellung gebracht bzw. in ihre seit der Aufklärung geltenden Rechte eingesetzt werden können!
Nun ist es ja nicht so, dass das von Seeßlen beschriebene herrschende neoliberal(-protofaschistische) Dispositiv das einzige in dieser Gesellschaft virulente ist: es ist doch nicht gelungen (wenn auch weitgehend) ein Ensemble von Praxen, Kenntnissen, Maßen und Institutionendurchzusezten, deren Ziel die Verwaltung, Leitung, Kontrolle und Ausrichtung der Gesten und Gedanken des Menschen ist. Bleiben wir bei der Definition von Agamben, so müssen wir doch festhalten, dass eben dies Ensemble auch Praxen, Kenntnisse, Maße und Institutionen umfasst, die nicht im herrschenden Dispositiv aufgehen. Die dafür stehen (wollen), müssen allerdings aufpassen, dass sie sich nicht als Anständige vereinnahmen lassen: Vgl. z.B. Einen Nachmittag willkommen, Fabian Köhler, tp 29.08.2015 oder auch: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 26. August eine Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Rathaus Berlin-Wilmersdorf besucht. Er informierte sich dort über die Situation der Flüchtlinge und die Arbeit der Helfer.
[weiter zu verfolgen]
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* Interessant ist die Nähe der Formulierung zum ersten Satz in Marx' Das Kapital (Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 23, "Das Kapital", Bd. I, Erster Abschnitt, S. 49 - 98)
Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine "ungeheure Warensammlung".
Marx formuliert weiter: ... die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.
Womit also müsste die Untersuchung der ungeheuren Wucherung von Dispositiven beginnen? Gibt es so etwas wie ihre Elementarform? Deren Untersuchung Aufschluss darüber geben könnte, wie sich das Individuum regieren lässt.
- »Das, was ich mit diesem Begriff zu bestimmen versuche,
ist erstens eine entschieden heterogene Gesamtheit,
bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen
Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen,
administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen,
philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen,
kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die
Elemente des Dispositivs.
Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen
Elementen herstellen kann.
[...] unter Dispositiv verstehe ich eine Art – sagen wir
– Gebilde, das zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt
vor allem die Funktion hat, einer dringenden Anforderung
nachzukommen. Das Dispositiv hat also eine dominante
strategische Funktion. [...]
Ich habe gesagt, dass das Dispositiv von einer wesentlich
strategischen Beschaffenheit wäre, was unterstellt,
dass es sich dabei um eine bestimmte Manipulation von
Kräfteverhältnissen handelt, um einen rationalen und
abgestimmten Eingriff in diese Kräfteverhältnisse, um
sie in irgendeine Richtung zu entwickeln, um sie zu blockieren
oder um sie zu stabilisieren, sie zu verwenden.
Das Dispositiv ist also immer in ein Machtspiel eingeschrieben,
doch immer auch an eine oder an mehrere
Wissensgrenzen gebunden, die daraus hervorgehen, es
aber genauso auch bedingen. Das eben ist das Dispositiv:
Strategien von Kräfteverhältnissen, die Arten von Wissen
unterstützen und von diesen unterstützt werden.«
zitiert nach Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv?
Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko, 48 Seiten, Diaphanes, Berlin 2008
Aus der Verlagsankündigung:
- Die Welt, in der wir leben, präsentiert sich als ungeheure Wucherung von Dispositiven.* Im Leben des Einzelnen gibt es keinen einzigen Moment mehr, der nicht von irgendeinem Dispositiv modelliert, kontrolliert oder kontaminiert wäre...
In seinem kurzen, programmatischen Text entwickelt Agamben eine erhebliche Erweiterung des Dispositivbegriffs, wie er insbesondere von Foucault geprägt wurde. Mit Bezug auf die eigenen Studien zur theologischen Genealogie der Ökonomie verweist er auf den Gebrauch des lateinischen dispositio durch die Kirchenväter als Übersetzung von oikonomia: als ein Ensemble von Praxen, Kenntnissen, Maßen und Institutionen, deren Ziel die Verwaltung, Leitung, Kontrolle und Ausrichtung der Gesten und Gedanken des Menschen ist.
Einen Versuch unternimmt Georg Seeßlen in seinem taz-Kommentar vom 27. 8. 2015:
Das deutsche Dispositiv
- ... Wenn man sagt, eine postdemokratische Regierung „nutze“ die Dispositive, so beschreibt man zugleich ihre Macht (regieren, ohne dass die Regierten merken oder sich erklären können, dass sie regiert werden) und ihre Ohnmacht (das Dispositiv erfasst die Regierung so sehr wie „das Volk“; keine von beiden kann zurück oder „zur Vernunft kommen“).
An einem entscheidenden Punkt beginnen die Dispositive ihr Eigenleben. Es stimmt, dass postdemokratische Regierungen vermittels Dispositiven regieren, ebenso aber stimmt, dass die Herrschaft der Dispositive sich der postdemokratischen Regierungen bedient. Angela Merkel ist das ideale Zentrum für eine Herrschaft der Dispositive. Die Regierung Merkel surft auf den deutschen Dispositiven.
Die Dispositive entfalten enorme Macht, aber es gibt kein einzelnes Subjekt der Macht über sie, sondern nur attraktive Vorstellungen, Begriffe und Personen (Bilder). In Dispositiven treffen sich alle Elemente einer Gesellschaft im Neoliberalismus: die Ökonomie, das Design, die Medien, die Wissenschaft, die Justiz, die Politik, die Kultur et cetera. Im Dispositiv werden jene Kräfte, die sich in einer demokratischen Gesellschaft wechselseitig kritisieren und kontrollieren sollten, zu Komplizen. Aber sie müssen es nicht zugeben. Vielleicht müssen sie es nicht einmal wissen.
Weil ein Dispositiv etwas anderes ist als ein Diskurs, kann darin ja auch niemand belangt werden. Im Dispositiv verwandelt sich, zum Beispiel, das Restmitleid mit afrikanischen Flüchtlingen, die gerade noch mit dem Leben davongekommen sind, in blanken Hass, sobald sie da sind. Es genügen ein paar Zwischenschritte: die üblen „Schlepper“, die Ungerechtigkeit bei der „Verteilung“ der Flüchtlinge, die Vorstellung von „Wirtschaftsflüchtlingen“ (als dürfte man vor dem Verhungern nicht fliehen), und schon gibt es ein Dispositiv, in dem sich Medienberichte, Regierungshandeln und „Volkes Stimme“ (beim Abfackeln von „Asylantenheimen“) „irgendwie“ zusammenfinden, nämlich zu einem Dispositiv von Abwehr, Entwürdigung und Verachtung...
Lesenswert!
Ein Herr Herrmann, Bayerns Innenminister, bei Frau Illner:
"Ich hoffe, Sie meinen es nicht so bös', aber es ist eine Beleidigung der Vertriebenen, der wirklich damals vor 70 Jahren Vertriebenen, die in diesen Kontext zu stellen."
I.Ü. müsste man allerdings einwenden, dass die ersten Opfer eliminatorischer Gewalt immer Menschen sind (wie schon der gern zitierte Satz „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“ eigentlich idealistsches dummes Zeug ist) und so wäre zu fragen, wie zum Schutz der Menschen Vernunft, Menschlichkeit und also Diskurs gegen das hegemoniale Dispositiv in Stellung gebracht bzw. in ihre seit der Aufklärung geltenden Rechte eingesetzt werden können!
Nun ist es ja nicht so, dass das von Seeßlen beschriebene herrschende neoliberal(-protofaschistische) Dispositiv das einzige in dieser Gesellschaft virulente ist: es ist doch nicht gelungen (wenn auch weitgehend) ein Ensemble von Praxen, Kenntnissen, Maßen und Institutionendurchzusezten, deren Ziel die Verwaltung, Leitung, Kontrolle und Ausrichtung der Gesten und Gedanken des Menschen ist. Bleiben wir bei der Definition von Agamben, so müssen wir doch festhalten, dass eben dies Ensemble auch Praxen, Kenntnisse, Maße und Institutionen umfasst, die nicht im herrschenden Dispositiv aufgehen. Die dafür stehen (wollen), müssen allerdings aufpassen, dass sie sich nicht als Anständige vereinnahmen lassen: Vgl. z.B. Einen Nachmittag willkommen, Fabian Köhler, tp 29.08.2015 oder auch: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 26. August eine Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Rathaus Berlin-Wilmersdorf besucht. Er informierte sich dort über die Situation der Flüchtlinge und die Arbeit der Helfer.
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* Interessant ist die Nähe der Formulierung zum ersten Satz in Marx' Das Kapital (Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 23, "Das Kapital", Bd. I, Erster Abschnitt, S. 49 - 98)
Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine "ungeheure Warensammlung".
Marx formuliert weiter: ... die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.
Womit also müsste die Untersuchung der ungeheuren Wucherung von Dispositiven beginnen? Gibt es so etwas wie ihre Elementarform? Deren Untersuchung Aufschluss darüber geben könnte, wie sich das Individuum regieren lässt.
gebattmer - 2015/08/30 18:05
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