Die Kompetenzkatastrophe (I) - Oder: Machtausübung durch Individualisierung: Pastoralmacht relaunched
Vorbemerkung: Ich habe hiermit eine neue Rubik "Bildung" aufgemacht, weil es dringend geboten ist, das herrschende Kompetenz-Paradigma einer fundamentalen Kritik zu unterziehen: Die Notwendigkeit ergibt sich einerseits aus Beobachtungen der des status praesens der Praxis des Lehrens und Lernens und andererseits aus der Auseinandersetzung mit der zunehmend kritischen theoretischen Reflexion der Kompetenzorientierung ganannten Neuformatierung des noch so genannten "Bildungs"systems. Ohne eine fundamentale Kritik des Ansatzes würde jeder Versuch einer Neuorientierung zu kurz greifen. Dabei meint "fundamentale Kritik" nicht ein pauschales Verwerfen aufgrund ideologischer Prämissen, sondern das Beharren darauf, dass jedes Postulat, Lernen habe so oder so organisiert zu werden, die Prämissen der Konstruktion und die Ziele ausweisen muss.
Begonnen sei hier mit einem ersten Überblick über den aktuellen Diskussionsstand.
Andreas Hellgermann macht in einem sehr lesenswerten Artikel auf die Dialektik der Individualiserung der Lern- bzw. Bildungsprozesse aufmerksam. Individualisierung - ein Trend, der ja erstmal prinzipiell begrüßenswert erscheint - konstruktivistisch und lerntypenmäßig unterfüttert und passend zur herrschenden Methodenorientierung. Vordergündig bedienen die neuen Trends die Idee, Schule könnte auch anders sein: Anstatt das Herumtreiben durch den vielfältigen Einsatz von Medien, Methoden, Richtlinien und Lehrplänen zu verhindern, könnte sie SchülerInnen einen Raum in die Welt hinein eröffnen, durch den und in dem tatsächlich ein eigenes Urteil über die Welt möglich wird. Wir wissen alle, dass das nicht so ist.
Um zu verstehen, welche Hindernisse bzw. politisch-ökonomische Interessen dem entgegen stehen, ist es notwendig, sich intensiver mit dem Begriff der »Kompetenz« und dem damit verbundenen Paradigmenwechsel in Lehrplänen und Schule auseinanderzusetzen. Nichts spricht gegen Kompetenz. Jedoch ist dieser Begriff zum Schlüsselbegriff für die Produktion einer spezifischen Subjektivität geworden, die für das neoliberale Projekt zentral ist. Für dieses sind Schule im Ganzen, die Reduktion des Bildungsbegriffs, das lebenslange Lernen und der Bolognaprozess wichtige Handlungsfelder...
Hellgermanns (übrigens katholischer Theologe und Lehrer am Berufskolleg. Außerdem arbeitet er mit am Institut für Theologie und Politik in Münster) zentrale These:
Kompetenzgehirnwäsche: Machtausübung durch Individualisierung
Das neoliberale Dogma mit seiner u.a. auf Gery Becker (1976) zurückgehenden »Humankapitaltheorie« dominiert auch die Schule: Gut ist, was betriebswirtschaftlich vernünftig erscheint. Das neue Bildungsideal ist der »flexible Mensch«, der funktioniert, wo immer man ihn hinstellt. Um seine Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt zu garantieren, ist »lebenslanges Lernen« notwendig. Erlernt werden vor allem »Kompetenzen« - ein Schlüsselbegriff, der für das neoliberale Projekt zentral ist.
Der Autor zeigt zunächst auf , wie die Humankapitaltheorie zur Verbetriebswirtschaftlichung des Bildungssystems beigetragen hat, u.a. am Beispiel des Einsickerns der "externen Berater" in die Schule (vgl. zur Bertelsmannnisierung), um dann mit Bezug zu Foucaults Begriff der Pastoralmacht die Tücken der Individualiserung herauszupäparieren:
Die Pastoralmacht ist eine Machtform, die ausgehend von über Jahrhunderte eingeübten kirchlichen Praktiken wiederzufinden ist in den unterschiedlichsten Bereichen unserer modernen bzw. postmodernen Gesellschaft. Und sie ist eine individualisierende Machtform, eine Form der Lenkung, die nicht unmittelbar auf das Subjekt, sondern auf sein Handeln zielt.
Dies hilft uns zu verstehen, wie die scheinbar offeneren Lernformen mit dem Phänomen der Machtausübung und Lenkung zusammenhängen und so mit dem Projekt des Neoliberalismus verwoben werden können. Das Entscheidende an der Pastoralmacht ist, dass sie eine Machttechnik ist, die durch andere als die kirchlichen Institutionen übernommen wird und als neue, vielfältig verwendbare Machtform zur Verfügung steht. Die ehemals auf das Jenseits ausgerichtete Pastoralmacht kreist nun um das Heil des Menschen im Diesseits und damit um das Subjekt. Wie, das wird in der kleinen Geschichte von Günther Anders deutlich. Der König schenkt dem Königssohn Pferd und Wagen, damit er nicht mehr zu Fuß zu gehen braucht. Hier sind die beiden Elemente der Sorge und der Individualisierung enthalten, die sich als Lenkung und damit Produktion einer bestimmten Subjektivität zeigen.
Diese Macht ist gerade nicht zu verwechseln mit Gewalt oder Zwang. Wenn wir uns die Veränderungen in der Schule anschauen, dann lässt sich über einen längeren Zeitraum zeigen, wie sich die Formen der Einwirkungen auf SchülerInnen immer weiter von Gewalt und Zwangsmaßnahmen entfernt haben. Stattdessen haben sich Machttechniken entwickelt, die näher am Subjekt sind, gerade weil sie nicht mehr versuchen, direkt auf das Subjekt einzuwirken, sondern sein Handeln in den Blick nehmen. Nur so kann es gelingen, das Bewusstsein des Einzelnen zu erreichen und dadurch zu lenken, anstatt es zu zwingen.
An dieser Stelle wird nun auch deutlich, wozu die Standardisierungen in der Schule gebraucht werden: Sie sind die entscheidende Kontrollinstanz in Bezug auf das Handeln, weil nur mit ihnen überprüft werden kann, ob »richtig« gehandelt wurde. Und sie sind zugleich der Hinweis auf das Misstrauen gegenüber wirklicher Individualität und wirklicher Heterogenität, die möglicherweise doch zu »falschem« Handeln führen könnten. Darüber hinaus sind sie der Garant und Indikator für die Marktförmigkeit der erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen....
Das solchermaßen zu produzierende Idealsubjekt ist im Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) und im Deutschen Qualifikationsrahmen für Lebenslanges Lernen (DQR) fixiert. Deutlich ist, dass hier ein Subjekt gedacht wird, dass im Wesentlichen der Problemlöser ist , der bereit und in der Lage ist, jede Situation zu bewältigen. Er ist der von Richard Sennet beschriebene »flexible Mensch«, der handeln kann, wo immer man ihn hinstellt, der funktioniert. Nun ist es ohne Frage sinnvoll, wenn junge Menschen frühzeitig lernen, mit zukünftigen Lebenssituationen umgehen zu können, handlungsfähig zu bleiben. Aber: Was ist, wenn die Situation selber falsch ist, wenn die Gegebenheiten insgesamt infrage gestellt werden müssen, wenn es darum geht, einmal das Ganze zu sehen? Genau das wird nicht gelernt!
Das scheint mir das zentrale Problem zu sein: wie das Subjekt gedacht wird, das sich Welt aneignen und Weltaufschluss (Holzkamp) erlangen will bzw. soll. Die Verkürzung des Subjektbegriffs bzw. das Verschwinden des Subjekts im Neoliberalismus arbeitet vorzüglich heraus:
Felix Grigat: Die Kompetenzkatastrophe – oder
„Die Wiederkehr der Bildungsphilister durch die Hintertür“
Pädagogische Korrespondenz, Heft 46 / Winter 2012
... wenn er nachweist, dass im Rahmen des neoliberalen Kompetenz-Paradigmas Bildung nicht mehr vom sich zu bildenden Subjekt aus gedacht wird, sondern von der ökonomisch definierten Qualifikation. Das Ergebnis ist ein System, das sich noch Bildungssystem nennt, aber letztlich eines ist, das der Selbstzurichtung der Subjekte zur lebenslangen Herstellung von Employability = Vernutzbarkeit dient.
In dieser Situation ist ... (es) sinnvoll zu klären,
- welches Demokratieverständnis und Menschenbild das Grundgesetz zugrundelegt
und welchen daraus resultierenden Bildungsauftrag Landesverfassungen und schulische Richtlinien umreißen;
- wie sich dazu das Menschenbild und Bildungsverständnis der neoliberalen Wirtschaftstheorie verhält und wie die bekannten bildungsökonomischen Schlagwörter darauf aufbauen;
- welches Demokratieverständnis das Propagandakonzept aufweist und welche Mittel der Propaganda bei der Durchsetzung eines ökonomistischen Bildungsverständnisses im Kontext von PISA und Bologna aufzeigbar sind;
- was der mögliche politische Sinn dieser Operation war, die nicht nur in der Wirtschaft, sondern eben auch im Bildungswesen vor ihrem Scheitern steht.
Auf dieser Grundlage kann über Handlungsmöglichkeiten nachgedacht werden,
die angesichts der realen Problemlagen im Bildungswesen sinnvoll und notwendig
wären. ...
Jochen Krautz: Bildungsreform und Propaganda via Forum Kritische Pädagogik
Und noch ein Gedanke dazu: Die Reduzierung des Subjekts auf Vernutzbarkeit setzt seine umfassende Durchschaubarkeit voraus. Das meint nicht nur die Erhebung seines Like-Verhaltens bei Facebook, sondern vielmehr die Ent-eignung der Psyche der Individuen durch die Hirnforschung.
Freerk Huisken macht in seinem sehr lesenswerten Aufsatz Über die Untauglichkeit der Hirnforschung als Ratgeberin in Bildungsfragen deutlich, dass im harmlosesten Fall die Ergebnisse der Hirnforschung für die Organisation erfolgreichen Lernens überflüssig sind. Bei genauerer Prüfung erweise sich, dass sie falsch und obendrein in ihrer Konsequenz fatal seien:
In seinem neusten Buch über Bildung äußert sich Roth darüber, wie er sich das Erziehungsresultat, den erzogenen jungen Menschen, die „reife Persönlichkeit“ vorstellt: „Bei der Persönlichkeitsbildung geht es konkret um Stressverarbeitung und Frustrationstoleranz, die Fähigkeit zur Selbstberuhigung und Selbstmotivation, Impulshemmung und den Umgang mit negativen Gefühlen, um Bindungsfähigkeit und Empathie und schließlich um die Ausbildung des Realitätssinns und der Risikowahrnehmung.“ Diese „Kernkompetenzen“ zu erwerben erklärt er überdies zu einer „lebenslangen Aufgabe“. Angesichts dieser Zeilen habe ich meine Impulse gegenüber dieser gnadenlosen Reklame für selbsttätige Unterwerfung der Menschen unter die sie beschädigenden Lebensumstände kaum noch hemmen können. Was liegt so einem Erziehungsziel zugrunde? Roth geht – so könnte man denken - davon aus, dass offensichtlich große Teile der Schüler später in Schule und Arbeitswelt Lebensverhältnissen ausgesetzt sind, die ihnen nicht gut tun, ihre Interessen nicht zur Geltung kommen lassen, für sie ein Risiko darstellen, kurz: sie schädigen. Warum sonst sollten sie in Schule und Beruf Stress haben, frustriert und beunruhigt sein, von negativen Gefühlen geplagt werden, sich ständig zur Ruhe mahnen, Impulse zur Gegenwehr hemmen und ihren Alltag als risikoreich empfinden? Dieser von Roth – so sollte man meinen - unterstellten gesellschaftlichen Lage will ich gar nicht widersprechen. Das Leben der Mehrheit ist - „lebenslang“ - in der Tat bestimmt von der Sorge, ob für sie bezahlte Arbeit da ist, ob man seine Arbeit behält, ob man damit genug Geld verdient, wie lange man sie aushält und was danach ist. Offensichtlich sind die Menschen hierzulande mehrheitlich also nicht die Subjekte ihrer Lebensverhältnisse...
In diesem Zusammenhang lesenswert:
Christina Gericke - Schule und Wirtschaft: das neue Traumpaar?
Zur Kooperation von öffentlichen Schulen und privaten Unternehmen
ebenfalls in der Pädagogischen Korrespondenz, hier als pdf
und schon früher hatte ich verwiesen auf:
Andreas Gruschka - Strategien zur Vermeidung des Lehrens und Lernens: der neue Methodenwahn
Begonnen sei hier mit einem ersten Überblick über den aktuellen Diskussionsstand.
Andreas Hellgermann macht in einem sehr lesenswerten Artikel auf die Dialektik der Individualiserung der Lern- bzw. Bildungsprozesse aufmerksam. Individualisierung - ein Trend, der ja erstmal prinzipiell begrüßenswert erscheint - konstruktivistisch und lerntypenmäßig unterfüttert und passend zur herrschenden Methodenorientierung. Vordergündig bedienen die neuen Trends die Idee, Schule könnte auch anders sein: Anstatt das Herumtreiben durch den vielfältigen Einsatz von Medien, Methoden, Richtlinien und Lehrplänen zu verhindern, könnte sie SchülerInnen einen Raum in die Welt hinein eröffnen, durch den und in dem tatsächlich ein eigenes Urteil über die Welt möglich wird. Wir wissen alle, dass das nicht so ist.
Um zu verstehen, welche Hindernisse bzw. politisch-ökonomische Interessen dem entgegen stehen, ist es notwendig, sich intensiver mit dem Begriff der »Kompetenz« und dem damit verbundenen Paradigmenwechsel in Lehrplänen und Schule auseinanderzusetzen. Nichts spricht gegen Kompetenz. Jedoch ist dieser Begriff zum Schlüsselbegriff für die Produktion einer spezifischen Subjektivität geworden, die für das neoliberale Projekt zentral ist. Für dieses sind Schule im Ganzen, die Reduktion des Bildungsbegriffs, das lebenslange Lernen und der Bolognaprozess wichtige Handlungsfelder...
Hellgermanns (übrigens katholischer Theologe und Lehrer am Berufskolleg. Außerdem arbeitet er mit am Institut für Theologie und Politik in Münster) zentrale These:
Kompetenzgehirnwäsche: Machtausübung durch Individualisierung
Das neoliberale Dogma mit seiner u.a. auf Gery Becker (1976) zurückgehenden »Humankapitaltheorie« dominiert auch die Schule: Gut ist, was betriebswirtschaftlich vernünftig erscheint. Das neue Bildungsideal ist der »flexible Mensch«, der funktioniert, wo immer man ihn hinstellt. Um seine Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt zu garantieren, ist »lebenslanges Lernen« notwendig. Erlernt werden vor allem »Kompetenzen« - ein Schlüsselbegriff, der für das neoliberale Projekt zentral ist.
Der Autor zeigt zunächst auf , wie die Humankapitaltheorie zur Verbetriebswirtschaftlichung des Bildungssystems beigetragen hat, u.a. am Beispiel des Einsickerns der "externen Berater" in die Schule (vgl. zur Bertelsmannnisierung), um dann mit Bezug zu Foucaults Begriff der Pastoralmacht die Tücken der Individualiserung herauszupäparieren:
Die Pastoralmacht ist eine Machtform, die ausgehend von über Jahrhunderte eingeübten kirchlichen Praktiken wiederzufinden ist in den unterschiedlichsten Bereichen unserer modernen bzw. postmodernen Gesellschaft. Und sie ist eine individualisierende Machtform, eine Form der Lenkung, die nicht unmittelbar auf das Subjekt, sondern auf sein Handeln zielt.
Dies hilft uns zu verstehen, wie die scheinbar offeneren Lernformen mit dem Phänomen der Machtausübung und Lenkung zusammenhängen und so mit dem Projekt des Neoliberalismus verwoben werden können. Das Entscheidende an der Pastoralmacht ist, dass sie eine Machttechnik ist, die durch andere als die kirchlichen Institutionen übernommen wird und als neue, vielfältig verwendbare Machtform zur Verfügung steht. Die ehemals auf das Jenseits ausgerichtete Pastoralmacht kreist nun um das Heil des Menschen im Diesseits und damit um das Subjekt. Wie, das wird in der kleinen Geschichte von Günther Anders deutlich. Der König schenkt dem Königssohn Pferd und Wagen, damit er nicht mehr zu Fuß zu gehen braucht. Hier sind die beiden Elemente der Sorge und der Individualisierung enthalten, die sich als Lenkung und damit Produktion einer bestimmten Subjektivität zeigen.
Diese Macht ist gerade nicht zu verwechseln mit Gewalt oder Zwang. Wenn wir uns die Veränderungen in der Schule anschauen, dann lässt sich über einen längeren Zeitraum zeigen, wie sich die Formen der Einwirkungen auf SchülerInnen immer weiter von Gewalt und Zwangsmaßnahmen entfernt haben. Stattdessen haben sich Machttechniken entwickelt, die näher am Subjekt sind, gerade weil sie nicht mehr versuchen, direkt auf das Subjekt einzuwirken, sondern sein Handeln in den Blick nehmen. Nur so kann es gelingen, das Bewusstsein des Einzelnen zu erreichen und dadurch zu lenken, anstatt es zu zwingen.
An dieser Stelle wird nun auch deutlich, wozu die Standardisierungen in der Schule gebraucht werden: Sie sind die entscheidende Kontrollinstanz in Bezug auf das Handeln, weil nur mit ihnen überprüft werden kann, ob »richtig« gehandelt wurde. Und sie sind zugleich der Hinweis auf das Misstrauen gegenüber wirklicher Individualität und wirklicher Heterogenität, die möglicherweise doch zu »falschem« Handeln führen könnten. Darüber hinaus sind sie der Garant und Indikator für die Marktförmigkeit der erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen....
Das solchermaßen zu produzierende Idealsubjekt ist im Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) und im Deutschen Qualifikationsrahmen für Lebenslanges Lernen (DQR) fixiert. Deutlich ist, dass hier ein Subjekt gedacht wird, dass im Wesentlichen der Problemlöser ist , der bereit und in der Lage ist, jede Situation zu bewältigen. Er ist der von Richard Sennet beschriebene »flexible Mensch«, der handeln kann, wo immer man ihn hinstellt, der funktioniert. Nun ist es ohne Frage sinnvoll, wenn junge Menschen frühzeitig lernen, mit zukünftigen Lebenssituationen umgehen zu können, handlungsfähig zu bleiben. Aber: Was ist, wenn die Situation selber falsch ist, wenn die Gegebenheiten insgesamt infrage gestellt werden müssen, wenn es darum geht, einmal das Ganze zu sehen? Genau das wird nicht gelernt!
Das scheint mir das zentrale Problem zu sein: wie das Subjekt gedacht wird, das sich Welt aneignen und Weltaufschluss (Holzkamp) erlangen will bzw. soll. Die Verkürzung des Subjektbegriffs bzw. das Verschwinden des Subjekts im Neoliberalismus arbeitet vorzüglich heraus:
Felix Grigat: Die Kompetenzkatastrophe – oder
„Die Wiederkehr der Bildungsphilister durch die Hintertür“
Pädagogische Korrespondenz, Heft 46 / Winter 2012
... wenn er nachweist, dass im Rahmen des neoliberalen Kompetenz-Paradigmas Bildung nicht mehr vom sich zu bildenden Subjekt aus gedacht wird, sondern von der ökonomisch definierten Qualifikation. Das Ergebnis ist ein System, das sich noch Bildungssystem nennt, aber letztlich eines ist, das der Selbstzurichtung der Subjekte zur lebenslangen Herstellung von Employability = Vernutzbarkeit dient.
In dieser Situation ist ... (es) sinnvoll zu klären,
- welches Demokratieverständnis und Menschenbild das Grundgesetz zugrundelegt
und welchen daraus resultierenden Bildungsauftrag Landesverfassungen und schulische Richtlinien umreißen;
- wie sich dazu das Menschenbild und Bildungsverständnis der neoliberalen Wirtschaftstheorie verhält und wie die bekannten bildungsökonomischen Schlagwörter darauf aufbauen;
- welches Demokratieverständnis das Propagandakonzept aufweist und welche Mittel der Propaganda bei der Durchsetzung eines ökonomistischen Bildungsverständnisses im Kontext von PISA und Bologna aufzeigbar sind;
- was der mögliche politische Sinn dieser Operation war, die nicht nur in der Wirtschaft, sondern eben auch im Bildungswesen vor ihrem Scheitern steht.
Auf dieser Grundlage kann über Handlungsmöglichkeiten nachgedacht werden,
die angesichts der realen Problemlagen im Bildungswesen sinnvoll und notwendig
wären. ...
Jochen Krautz: Bildungsreform und Propaganda via Forum Kritische Pädagogik
Und noch ein Gedanke dazu: Die Reduzierung des Subjekts auf Vernutzbarkeit setzt seine umfassende Durchschaubarkeit voraus. Das meint nicht nur die Erhebung seines Like-Verhaltens bei Facebook, sondern vielmehr die Ent-eignung der Psyche der Individuen durch die Hirnforschung.
Freerk Huisken macht in seinem sehr lesenswerten Aufsatz Über die Untauglichkeit der Hirnforschung als Ratgeberin in Bildungsfragen deutlich, dass im harmlosesten Fall die Ergebnisse der Hirnforschung für die Organisation erfolgreichen Lernens überflüssig sind. Bei genauerer Prüfung erweise sich, dass sie falsch und obendrein in ihrer Konsequenz fatal seien:
In seinem neusten Buch über Bildung äußert sich Roth darüber, wie er sich das Erziehungsresultat, den erzogenen jungen Menschen, die „reife Persönlichkeit“ vorstellt: „Bei der Persönlichkeitsbildung geht es konkret um Stressverarbeitung und Frustrationstoleranz, die Fähigkeit zur Selbstberuhigung und Selbstmotivation, Impulshemmung und den Umgang mit negativen Gefühlen, um Bindungsfähigkeit und Empathie und schließlich um die Ausbildung des Realitätssinns und der Risikowahrnehmung.“ Diese „Kernkompetenzen“ zu erwerben erklärt er überdies zu einer „lebenslangen Aufgabe“. Angesichts dieser Zeilen habe ich meine Impulse gegenüber dieser gnadenlosen Reklame für selbsttätige Unterwerfung der Menschen unter die sie beschädigenden Lebensumstände kaum noch hemmen können. Was liegt so einem Erziehungsziel zugrunde? Roth geht – so könnte man denken - davon aus, dass offensichtlich große Teile der Schüler später in Schule und Arbeitswelt Lebensverhältnissen ausgesetzt sind, die ihnen nicht gut tun, ihre Interessen nicht zur Geltung kommen lassen, für sie ein Risiko darstellen, kurz: sie schädigen. Warum sonst sollten sie in Schule und Beruf Stress haben, frustriert und beunruhigt sein, von negativen Gefühlen geplagt werden, sich ständig zur Ruhe mahnen, Impulse zur Gegenwehr hemmen und ihren Alltag als risikoreich empfinden? Dieser von Roth – so sollte man meinen - unterstellten gesellschaftlichen Lage will ich gar nicht widersprechen. Das Leben der Mehrheit ist - „lebenslang“ - in der Tat bestimmt von der Sorge, ob für sie bezahlte Arbeit da ist, ob man seine Arbeit behält, ob man damit genug Geld verdient, wie lange man sie aushält und was danach ist. Offensichtlich sind die Menschen hierzulande mehrheitlich also nicht die Subjekte ihrer Lebensverhältnisse...
In diesem Zusammenhang lesenswert:
Christina Gericke - Schule und Wirtschaft: das neue Traumpaar?
Zur Kooperation von öffentlichen Schulen und privaten Unternehmen
ebenfalls in der Pädagogischen Korrespondenz, hier als pdf
und schon früher hatte ich verwiesen auf:
Andreas Gruschka - Strategien zur Vermeidung des Lehrens und Lernens: der neue Methodenwahn
Der lange, kontemplative Blick jedoch, dem Menschen und Dinge erst sich entfalten, ist immer der, in dem der Drang zum Objekt gebrochen, reflektiert ist. Gewaltlose Betrachtung, von der alles Glück der Wahrheit kommt, ist gebunden daran, dass der Betrachtende nicht das Objekt sich einverleibt: Nähe an Distanz.“
Adorno über Goethegebattmer - 2013/01/23 19:02