Autoritärer Kapitalismus - Desintegration - Separatismus und die Sehnsucht nach dem homogenen Kleinstaat : "Stämme unter sich" oder "Prüfstein der Demokratie"
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Anregend-lesenswert heute in der Süddeutschen:
Gustav Seibt
Stämme unter sich - Selbstbestimmung lädt zur Diktatur ein
- Nach dem katalanischen Referendum soll es in zwei Wochen ein lombardo-venezianisches geben, bei dem der Norden Italiens über seine Selbständigkeit abstimmt. Wie in Spanien sind die Gründe vorwiegend ökonomisch. Wirtschaftlich starke Regionen wollen nicht weiter für ärmere Teile des Landes zahlen, mit denen sie in Nationalstaaten zusammenleben...
Im Hinblick auf die demokratietheoretische Seite des Problems erscheint mir Seibts Rekurs auf Dahrendorf ("Europa der Regionen?", Merkur, August 1991) sehr hilfreich zu sein; - zumal hier, wo Teile der Linken seit langem dazu neigen, jede separatistische Revolte als von bedrohten Völkern (sic!) unternommen und damit per se legitim und fortschrittlich, also unterstützungswürdig anzusehen.
- Schon 1991, am Beginn der jugoslawischen Krise, warnte der liberale Denker Ralf Dahrendorf in visionären Aufsätzen vor dieser Tendenz zur Rückkehr in kleine historische Einheiten, vor der neuen Sehnsucht nach Homogenität in einer "Stammesexistenz": "Menschen können oder wollen das Leben in heterogenen Gemeinschaften nicht ertragen; sie suchen ihresgleichen und möglichst nur ihresgleichen", schrieb Dahrendorf 1991 in der Zeitschrift Merkur unter dem Titel "Europa der Regionen?". In einer kurz zuvor gehaltenen Rede entwickelte Dahrendorf die inneren Widersprüche des völkerrechtlichen Konzepts der "Selbstbestimmung": Es würde immer im Namen von anderen in Anspruch genommen, die im Zweifelsfall gar nicht gefragt würden. "Selbstbestimmung lädt zur Diktatur ein", so Dahrendorf.
Die Begriffe "Stammesgesellschaft", "Stammesexistenz" wählte er dabei mit Bedacht. Sie sind im politischen Denken Karl Poppers, eines der liberalen Lehrer Dahrendorfs, das Gegenüber von "offenen Gesellschaften", in denen Verschiedene mit gleichen Rechten zusammenleben. Den heterogenen Nationalstaat nannte Ralf Dahrendorf in seinem Merkur-Beitrag "größte Errungenschaft der politischen Zivilisation". Denn das sind die europäischen Nationalstaaten: heterogen, innerlich voller Verschiedenheiten, historische Regionen, unterschiedliche Konfessionen und Dialekte überwölbend, mit Mehr- und Minderheiten.
Den homogenen Nationalstaat, das Phantasma vieler Nationalisten, kann es nur auf kleinstem Raum geben, wo das Volk als Großfamilie, als Clan-Verband, eben als "Stamm" begriffen wird, nicht als historisch gewachsene Rechtsgemeinschaft von Bürgern, die sich als Gleiche anerkennen. Alle Versuche, in großen Nationen Homogenität, Einförmigkeit von Volk oder Kultur herzustellen, endeten in brutaler Unterdrückung, oft mit ethnischen Säuberungen, gar Massenmorden.
Doch die Lösung, die Einheiten so zu stückeln, dass nur noch homogene Kleinststaaten zurückbleiben - also ein "Europa der Regionen" - erschien dem Liberalen Dahrendorf keineswegs wünschenswert. Denn die Homogenität unterlaufe die "Idee von Bürgerschaft". Diese besteht darin, dass sie ein Leben mit Unterschieden erlaubt. Und diese Unterschiede betreffen eben nicht nur Sprache oder Herkunft, sondern auch alle anderen Aspekte, in denen Bürgerindividuen sich unterscheiden können, Religion, weltanschauliche und politische Überzeugung, sexuelle Orientierung. Je kleiner und homogener ein Ländchen ist, umso geringer wird ganz allgemein seine Verschiedenheitstoleranz, und die demokratische Idee der Gleichheit droht sich auf ethnische Gleichförmigkeit zu verengen. Aus dem politischen Demos, dem Souverän der Demokratie, wird das völkische Ethnos, der Stamm, die Gemeinschaft.
Die EG - Modell und Wirklichkeit
Europa im Herbst 1992 - Betrachtungen über das Projekt Europa.
Von Ralf Dahrendorf (NZZ Folio)
Lesenswert!
Zur weiteren theoretischen Grundlegung sei empfohlen:
Hauke Brunkhorst: Staatsbürgeruniversalismus contra Nationalstaat (1993) - mit diesem weitsichtigen Ausblick:
- Ein Festungsblock gegen die 'fundamentalistische' Immigranten- und
Asylantenflut und all die Armut der Welt würde beispielsweise Europa in
einen wohlstandschauvenistisch unf besitzindividualistisch homogenisierten
Nationalstaat zurückverwandeln. Das ist keine abstrakte Möglichkeit. Es ist
die sehr reale Alternative der Europäischen Gemeinschaft, ein »Block unter
Blöcken« zu werden, das »das alte Trauerspiel der Nationen mit neuen Akteuren
und Kulissen« fortführte - oder doch noch einen entschlossenen »Schritt auf
dem Weg zur Weltbürgergesellschaft« zu tun.16
Auch die europäische Einigung kann zu einem Rückfall unter das zivilisatorische
Niveau des Nationalstaats der Französischen Revolution führen. Diese Gefahr
ist sehr real und höchst aktuell, - seit der, bislang glücklicherweise weitgehend
Semantik gebliebenen, Wiederkehr des reaktionären »Primats der Außenpolitik«
im Golf-Krieg und seit der neuen westeuropäischen Fremdenfeindlichkeit.
Unter ungünstigen wirtschaftlichen und weltpolitischen Konstellationen könnte
das leicht zum Durchbruch eines aggressiv eurozentrischen und ethnoeuropäischen
Kollektivbewußtseins führen.
Es gibt also eine Möglichkeit des Rückfalls vom heterogenen Nationalstaat in
ein besitzindividualistisches Europa des Geldes und der Macht. Weil sie damit
nicht rechnet, hat Ralf Dahrendorf die wolkige Rede vom Europa der Regionen
mit Recht kritisiert. »Der heterogene Nationalstaat«, schreibt er, »war die
größte Errungenschaft der politischen Zivilisation. In ihm kamen Bürgerrechte
wirksam zum Geltung, nämlich als gleiche Grundrechte für Menschen
unterschiedlicher Zugehörigkeiten. Zu diesen Grundrechten gehörte immer
auch das auf geschützte Entfaltung der kulturellen, religiösen, ethnischen
Besonderheiten. Zusammen mit den Grundrechten des Einzelnen wurden solche
Rechte durch Verfassungen garantiert. Der Rechtsstaat ermöglichte den Rekurs
auf Instanzen der Erzwingung; er schaffte den gemeinsamen Grund, auf dem
die Vielfalt der menschlichen Interessen und Bedürfnisse gedeihen konnte.«17
Vor Nationalstaatsillusionen ist indes zu warnen. Denn wenn der vorlaufende
europäische Schritt zur Weltbürgergesellschaft am Wohlstandschauvinismus,
an der Macht legitimationsfreier Entscheidungsinstanzen und an den Interessen
des Kapitals scheitert, wird auch von den in die alten Nationalstaaten
zurückgedrängten »Inseln der Freiheit« (Dahrendorf) nicht viel bleiben. Sie
werden von der Flutwelle fortgespült werden, mit der der europäische
Festungsblock in die aufgewühlte See der Weltgesellschaft plumpst...
- Sie ergreifen damit die Partei schlechthin des Staates, die Partei der um (fast) jeden Preis zu sichernden Einheit des Staates und folglich der Staatsgewalt. Daran ändert sich nichts, wenn die Staatsbejahung nicht in nationalen, sondern in sozialen Kategorien begründet wird: um Mehrheitsentscheidungen geht es in beiden Fällen. Das ist es, dem wir uns prinzipiell widersetzen.
Aus demselben Grund ist die katalanische Frage für uns keine nationale und damit auch keine Frage eines nationalen Staates, sondern eine Demokratiefrage. Sie stellt sich nicht nur in jeder real existierenden, sie stellt sich auch in jeder möglichen Demokratie, sie ist die Demokratiefrage schlechthin, die unvermeidliche Selbst-Infragestellung jeder Demokratie. Sie stellt sich, solange die Demokratie staatlich verfasst sein wird, und sie stellt sich, solange die Demokratie sich in Mehrheitsverhältnissen feststellt. Sie artikuliert das Selbstverteidigungsrecht der Minderheiten, und sie konkretisiert dieses Recht als Recht auf Separation und Sezession. Der letzte Schritt ist essenziell, weil das das Selbstverteidigungsrecht der Minderheit erst als Recht auf Separation oder Sezession praktisch wird. Das Recht auf Separation oder Sezession wird deshalb augenblicklich auch und gerade in einem katalanischen, kurdischen, korsischen, irischen, schottischen, palästinensischen, tamilischen Staat oder in einem Staat der Rohingya zum essenziellen Recht seiner Minderheiten und damit zum Prüfstein der Demokratie...
(Katalonien: Demokratie und Sezession -Thomas Seibert -Okt 5, 2017)
Hilfreicher scheinen mir - von Fefe empfohlen - diese Erläuterungen von Hans-Ingo Radatz:
- Es stellt sich nämlich raus, dass diese Länderfinanzausgleich-Geschichte gar nicht, wie viele Beobachter (inklusive meiner Wenigkeit) spontan angenommen haben, der Kern der Problematik ist, sondern eher so ein "das sollten wir bei der Gelegenheit auch gleich mal klären"-Ding. Und dass der Verhandlungstisch keine so attraktive Option ist, wie man als Beobachter annehmen könnte, der verpennt hat, dass die da seit Jahren verhandelt haben. Ergebnis:
Diese Vorschläge lassen sich als eine hypothetische Ausformulierung dessen lesen, was besonnene Kommentatoren der katalanischen Seite als Alternative zu ihrem Unabhängigkeitskurs vorzuschlagen scheinen. Das Problem dabei ist nun, dass all diese Verhandlungen längst stattgefunden haben und gescheitert sind.
Es gab erfolgreiche Verhandlungen und die Sache war schon so gut wie vom Tisch.
All diese Initiativen sind mittlerweile am Widerstand Rajoys und seiner Partei gescheitert. Es ist zudem offensichtlich, dass dieses Scheitern kein Zwischenergebnis ist, über das noch nachverhandelt werden könnte, denn die Argumente des spanischen Ministerpräsidenten erlauben keine Dialektik. Seine rotunde Zurückweisung der katalanischen Forderungen begründet Rajoy damit, dass Spanien eben keine „nación de naciones“ sei; vielmehr gebe es „nur eine Nation, die spanische!“
Der Präsident stellt sich quer. Es sind nicht die unnachgiebigen, rebellischen Katalanen, die hier das Problem sind, sondern die unnachgiebige Repressionspolitik des Präsidenten. ...
Nachtrag:
Separatismus als Flucht vor der Krise
Telepolis, 16. Oktober 2017, Tomasz Konicz
- .. Sozioökonomisch gibt es einen großen gemeinsamen Nenner, auf den man den Europäischen Separatismus bringen kann: Nahezu alle derzeit im Aufschwung befindlichen separatistischen Bewegungen Europas werden - aller identitären und demokratischen Rhetorik zum Trotz - maßgeblich durch ökonomische Prozesse und Faktoren befeuert.
Bemerkenswert an dieser europaweiten Welle des Separatismus ist vor allem der Umstand, dass sie zumeist durch wohlhabende und sozioökonomisch avancierte Regionen getragen wird: durch Katalonien in Spanien, Südtirol und Norditalien ("Pandanien") in Italien oder Flandern in Belgien. All diesen Fällen ist die krisenbedingte Tendenz gemein, sich durch eine Abspaltung von den ärmeren - und im Gefolge von Eurokrise und deutschem Spardiktat besonders hart getroffenen - Landesteilen abzukoppeln.
Obwohl sie auf mitunter uralten, historisch grundierten regionalen Differenzen und Animositäten gründen, sind die gegenwärtigen sezessionistischen Konflikte somit vor allem durch eine ökonomistische Wirtschaftsstandortideologie determiniert: Durch die Abtrennung vom - krisengeschüttelten - Staatsverbund möchten die Separatisten eine Verbesserung ihrer sozioökonomischen Lage erreichen.
Es ist dieselbe Krisenlogik, die bei den meisten dieser separatistischen Auseinandersetzungen greift: Die ökonomisch abgeschlagenen Regionen werden von den avancierten Regionen als "Schmarotzer" wahrgenommen, die in der Krise zu einer unzumutbaren Belastung würden. Diese Sichtweise - die in einer allgemeinen Tendenz zur Exklusion der Krisenverlierer aufgeht - gewinnt in Katalonien, Flandern, Bayern und Norditalien an Boden...
Der Identitätswahn, der den Aufstieg der Neuen Rechten begleitet, verweist letztendlich auf eine unverarbeitete Zukunftsangst in weiten Bevölkerungsteilen, die sich hierdurch in eine imaginierte heile Vergangenheit flüchten wollen. Mit der forcierten Rückbesinnung auf nationale oder ethnische Identitäten, die ohnehin einen krisenbedingten Wandel erfahren, wird letztendlich ein Festhalten am Gegebenen intendiert, an den sozialen Strukturen, die eben diese Identitäten ausformen.
Die eigene Identität - die ja ohnehin ein Produkt der sich wandelnden Sozialisation ist - wird als eine unveränderliche, rassisch oder kulturell bedingte Eigenschaft des Subjekts imaginiert. Sie erscheint als ein Anker, als ein Orientierungspunkt in einer von chaotischen Umbrüchen verheerten Welt. Die Identität erscheint in der Krise somit als etwas, das kein Umbruch, das kein sozialer Wandel dem Subjekt nehmen kann.
Und gerade dies ist die größte Lüge des europäischen Neonationalismus, wie ein Blick auf die Wandlungen allein der deutschen Identität offenbart. Obwohl die Neue Rechte zurück in die Vergangenheit will, leistet sie somit objektiv der drohenden krisenbedingten Barbarisierung Vorschub.
gebattmer - 2017/10/09 18:59
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