Das neue Erziehungsregime
Wichtiger Aufsatz von Frank-Olaf Radtke (Erweiterte Fassung einer Rede, gehalten bei der Versammlung „Das Bildungswesen ist kein Wirtschafts-Betrieb“ am 10. Oktober 2005) im Februar-Heft PÄDAGOGIK
Neue Regierungstechniken
Die von PISA eingeleitete Beunruhigung des Bildungssys-tems ist allgemein begrüßt und von der Bildungspolitik und der Bildungsforschung zu einer Qualitätsoffensive genutzt worden, mit der mehr Transparenz, Rationalität und Effekti-vität in das Lehr-Lerngeschehen in Schule und Hochschule gebracht werden soll. Die pragmatische Hinwendung zur Schulwirklichkeit, die Formulierung von Bildungsstandards, ihre regelmäßige Evaluation, die Entpolitisierung der Bil-dungspolitik, ihre Übersetzung in überschaubare Sachaufga-ben, die keinen Ideologien mehr folgen – das kann man doch eigentlich nur begrüßen. Kritik scheint sich zu verbieten an-gesichts der Visionen effizienter und effektiver Erziehung, der wunderbaren Aufbruchstimmung, des parteienübergrei-fenden Einvernehmens und der neuen Steuerungshoffnungen.
Aber diese Agenda ist selbst eine Ideologie. Sie folgt im Gegensatz zu früheren Reformprogrammen, die lebensphilo-sophisch oder sozialpolitisch begründet waren, der pragmati-schen, durchaus nicht neuen Utopie der konsequenten Aus-richtung der Erziehung an ökonomischen Zwecken. Die Kin-der sollen schon vor der Schule, die ihre Erziehungsarbeit intensiviert, beschleunigt und verkürzt, darauf vorbereitet werden, dem Arbeitsmarkt möglichst früh und möglichst lange zur Verfügung zu stehen. Begleitet wird der angestreb-te Umbau von Machbarkeitsphantasien, die auf permanente und umfassende Effizienzkontrolle aller Lehr-Lern-Prozesse setzen. Der alte Schlendrian in den Schulen, den schon Jo-hann Friedrich Herbart Anfang des 19. Jahrhunderts ange-geißelt hat, soll nun endgültig pädagogischer Rationalität weichen. Im historischen Moment seiner größten Schwäche, in der die Grenzen der Steuerbarkeit Sozialer Systeme - ex-emplarisch am Arbeitsmarkt - offenkundig geworden sind, greift der nationale Wohlfahrtsstaat in seinem engeren Zu-ständigkeitsbereich der öffentlichen Verwaltung, des Ver-kehrs und der Risikovorsorge nun auch im Erziehungssystem zu Instrumenten eines technokratischen, auch autoritären Di-rigismus, der nur notdürftig mit zumeist englischen Vokabeln kaschiert wird, dabei aber alle politischen, demokratisch legi-timierten Entscheidungsmechanismen in Schule und Hoch-schule außer Kraft zu setzen droht. Ein Merkmal der Entpoli-tisierung, d. h. des Verzichts auf die kontroverse Diskussion der Ziele der Bildungspolitik ist die Suggestion der Alterna-tivlosigkeit der begonnenen Rationalisierungsmaßnahmen, die jeden Widerspruch ins Abseits des Gestrigen, ja Reaktio-nären drängt...
Der komplette Text hier.
Dort auch:
Rudolf zur Lippe: ÖKONOMIE ALS MODELL FÜR BILDUNG?
und aktuell:
Antje Berg, Südwest Presse Ulm - Turbo-Abitur: Unter Druck von früh bis spät zur Kritik u.a. des Landeselternbeirates BW am G8.
(G8 ist in BW und Bayern die Marketing-Formel für das, was Radtke analysiert. Vielleicht merkt ja demnächst auch in Niedersachsen mal jemand was. Bisher wird hier gern Unterrichtsausfall beklagt. Die Folgen des Nicht-Ausfalls beschreibt der Artikel von Antje Berg.)
Neue Regierungstechniken
Die von PISA eingeleitete Beunruhigung des Bildungssys-tems ist allgemein begrüßt und von der Bildungspolitik und der Bildungsforschung zu einer Qualitätsoffensive genutzt worden, mit der mehr Transparenz, Rationalität und Effekti-vität in das Lehr-Lerngeschehen in Schule und Hochschule gebracht werden soll. Die pragmatische Hinwendung zur Schulwirklichkeit, die Formulierung von Bildungsstandards, ihre regelmäßige Evaluation, die Entpolitisierung der Bil-dungspolitik, ihre Übersetzung in überschaubare Sachaufga-ben, die keinen Ideologien mehr folgen – das kann man doch eigentlich nur begrüßen. Kritik scheint sich zu verbieten an-gesichts der Visionen effizienter und effektiver Erziehung, der wunderbaren Aufbruchstimmung, des parteienübergrei-fenden Einvernehmens und der neuen Steuerungshoffnungen.
Aber diese Agenda ist selbst eine Ideologie. Sie folgt im Gegensatz zu früheren Reformprogrammen, die lebensphilo-sophisch oder sozialpolitisch begründet waren, der pragmati-schen, durchaus nicht neuen Utopie der konsequenten Aus-richtung der Erziehung an ökonomischen Zwecken. Die Kin-der sollen schon vor der Schule, die ihre Erziehungsarbeit intensiviert, beschleunigt und verkürzt, darauf vorbereitet werden, dem Arbeitsmarkt möglichst früh und möglichst lange zur Verfügung zu stehen. Begleitet wird der angestreb-te Umbau von Machbarkeitsphantasien, die auf permanente und umfassende Effizienzkontrolle aller Lehr-Lern-Prozesse setzen. Der alte Schlendrian in den Schulen, den schon Jo-hann Friedrich Herbart Anfang des 19. Jahrhunderts ange-geißelt hat, soll nun endgültig pädagogischer Rationalität weichen. Im historischen Moment seiner größten Schwäche, in der die Grenzen der Steuerbarkeit Sozialer Systeme - ex-emplarisch am Arbeitsmarkt - offenkundig geworden sind, greift der nationale Wohlfahrtsstaat in seinem engeren Zu-ständigkeitsbereich der öffentlichen Verwaltung, des Ver-kehrs und der Risikovorsorge nun auch im Erziehungssystem zu Instrumenten eines technokratischen, auch autoritären Di-rigismus, der nur notdürftig mit zumeist englischen Vokabeln kaschiert wird, dabei aber alle politischen, demokratisch legi-timierten Entscheidungsmechanismen in Schule und Hoch-schule außer Kraft zu setzen droht. Ein Merkmal der Entpoli-tisierung, d. h. des Verzichts auf die kontroverse Diskussion der Ziele der Bildungspolitik ist die Suggestion der Alterna-tivlosigkeit der begonnenen Rationalisierungsmaßnahmen, die jeden Widerspruch ins Abseits des Gestrigen, ja Reaktio-nären drängt...
Der komplette Text hier.
Dort auch:
Rudolf zur Lippe: ÖKONOMIE ALS MODELL FÜR BILDUNG?
und aktuell:
Antje Berg, Südwest Presse Ulm - Turbo-Abitur: Unter Druck von früh bis spät zur Kritik u.a. des Landeselternbeirates BW am G8.
(G8 ist in BW und Bayern die Marketing-Formel für das, was Radtke analysiert. Vielleicht merkt ja demnächst auch in Niedersachsen mal jemand was. Bisher wird hier gern Unterrichtsausfall beklagt. Die Folgen des Nicht-Ausfalls beschreibt der Artikel von Antje Berg.)
gebattmer - 2006/02/05 01:25
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