Metamorphosis II - oder: Postdemokratie
Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in ...
einer Gesellschaftsform wieder, die die Demokratie mit sich herumschleppt wie einen kranken Verwandten:
... das ist eine Herrschaftsform, die Colin Crouch „Postdemokratie“ genannt hat: ein prekärer Zustand zwischen der Herrschaft des Volkes und der Herrschaft der Konzerne (die sich den Umstand zunutze machen, dass der Staat seine Bürger nicht mehr schützen will): „Das heißt nicht, dass wir in einem nichtdemokratischen Staat leben, der Begriff beschreibt jedoch eine Phase, in der wir gleichsam am anderen Ende der Parabel der Demokratie angekommen sind. Viele Symptome weisen darauf hin, dass dies heute in den Industrienationen der Fall ist, und wir uns vom Ideal der Demokratie fort- und auf das postdemokratische Modell zu bewegen.“
Ein schönes Beispiel für die Symptomatik war eben auf Pro7 zu sehen: hier kam die mediale Inszenierung der Bundestagswahl zu sich selbst: zuerst waren wirkliche Politiker zu Gast, die für den Fleischwarenfachverkäufer den Affen machten, dann wurden Jugendliche - auf widerlichste Weise - vorgeführt, deren politische Unkenntnisse das Ergebnis 1. genau dieser Art von Fernsehen, 2. dieser Art von Politik und 3. des von dieser Art von Politik verordneten Politikunterrichts in den Schulen sind. Herzlichen Glückwunsch. Etwas irritiert war man dann, dass die Linke in vielen Bundesländern die stärkste Partei war - und insgesamt die zweitstärkste (und die FDP die drittstärkste) -, was nun so gedeutet werden könnte: Das Prekariat glotzt Pro7, weiß aber trotzdem, wo die Lampe hängt - oder:
Die Postdemokratie zeichnet sich dadurch aus, dass demokratische und nicht-demokratische Impulse einander durchdringen und dass dieser Prozess der inneren Zersetzung sich nicht in Form von großen Skandalen, Staatsstreichen oder Systemwechseln vollzieht, sondern in Form der schleichenden Erosion, der Gewöhnung, der „Alternativlosigkeit“. Man kann, so scheint es, einfach nichts dagegen machen: gegen die Anfälligkeit für direkte und mehr noch indirekte Korruption; gegen die Entmachtung der Parlamente durch eine Komplizenschaft der Exekutive mit der Wirtschaft; gegen das Privatisieren und Outsourcen, gegen die Erzeugung neuer bildungs- wie politik-, letztlich gar lebensfernen Subgesellschaften, die sich alle Freiheiten nehmen, weil es in ihren Ghettos (Plattenbau, Droge und Fernsehen) nichts zu verlieren gibt; gegen die Medialisierung und Infantilisierung der politischen Kommunikation zu einer Art von Democratainment, in dem Macht- und Entscheidungsfragen allenfalls in Form von Gerüchten und Affären behandelt werden und ansonsten eine Endlos-Show läuft; gegen die digitale Überwachungssucht, die Tendenz der Durchdringung von Wirtschaft und Politik; gegen den Sieg des Systemischen über das Moralische (Eigenart aller Fundamentalismen, so auch des kapitalistischen Fundamentalismus, des so genannten Neoliberalismus: Das System zu erhalten ist das einzig bedeutende Ziel, die Elemente – in diesem Fall: Menschen, Ideen und Projekte, sind demgegenüber völlig gleichgültig); gegen politische Entscheidungen, die aus Sachzwängen und Machtspielen entstehen, die Entstehung rechtsfreier Räume und demokratieresistenter sozialer Milieus; gegen die Auflösung der ideellen und politischen Konkurrenzen der Parteien in innerparteiliche Machtspiele und mediale Popularitätstests. Und so weiter.
Verzweifelt: die Mitte
Demokratische Formen der Regierung und der Kontrolle der Regierung ist das eine, eine Form der inneren Demokratie das andere. Diese „innere Demokratie“ einer Gesellschaft wäre ein System, in dem die einzelnen Elemente zugleich voneinander abhängig sind und voneinander unabhängig: eine Abhängigkeit, die sich aus Interesse und Wert zusammensetzen würde. Unabhängigkeit würde vielleicht mit weniger Sozialprestige und weniger Karriereaussicht, aber nicht mit dem sozialen Tod bedroht. Abhängigkeit wäre ein Pakt auf Zeit, der niemals, ich wiederhole: in einer demokratischen Gesellschaft niemals die Art von Abhängigkeit sein dürfte, die eine nach der Art einer Sklavenhaltergesellschaft von Herrn und Diener ist oder die nach Mafia-Art die einer unauflöslichen, verschworenen Gemeinschaft.
Im Neoliberalismus haben sich die Verhältnisse von Abhängigkeit und Unabhängigkeit ebenso verändert wie die Bedingungen einer politischen Kontrolle der Ökonomie und einer demokratischen Kontrolle der Politik. Wechselseitige Abhängigkeit verdichtet sich in der Mitte. Eine fundamentale zwischenmenschliche und soziale Unabhängigkeit dagegen entwickelt sich an den Rändern: Der Jugendliche U-Bahnschläger, für den es keine Hemmung gibt, einen anderen Menschen totzuprügeln, gleicht darin einem Millionen-Bankmanager, der nichts dabei findet, sein Unternehmen von der Allgemeinheit refinanzieren zu lassen und sich dabei erneut die eigenen Taschen mit „Boni“ vollzustopfen – beide müssen sich von niemandem wirklich abhängig fühlen. Für beide gibt es keine wechselseitige soziale Beziehung mehr, die eine Balance zwischen eigenen Interessen und denen von Mitmenschen oder denen des demokratischen Systems verlangen würde. Jenseits der demokratischen Abhängigkeit verhalten sich Menschen offensichtlich oben wie unten: barbarisch.
Die Mitte versucht verzweifelt, die ohnehin schon ausgeprägte wechselseitige Abhängigkeit noch zu erhöhen: Sie ruft nach noch mehr Kontrolle, meint und trifft dabei allerdings weniger die „unverantwortlichen“ Ränder als sich selbst. In der Mitte ist gegenseitige und hierarchische Abhängigkeit bereits wiederum so ausgeprägt, dass allerorten die Grenzen zwischen der demokratischen und der sklavenhalterischen oder der mafiösen Abhängigkeit überschritten werden. Das Gesetz der Abhängigkeit erlaubt es Menschen in der Mitte nicht nur nicht mehr, ihre Möglichkeiten zu entfalten. Es erlaubt ihnen nicht einmal mehr, ein Bewusstsein, eine Sprache für ihre Gefängnis-Situation zu haben. Wir nennen es Korruption, wir nennen es Feigheit, wir nennen es Unterwerfung; es ist indes nichts anderes als die zur alltäglichen Charaktereigenschaft in einem Lebenszusammenhang der fundamentalen Abhängigkeit gewordene Taktik des Überlebens: Dem Verlust an Wahlmöglichkeiten (und sei es die zwischen Sprechen und Schweigen) begegnen wir mit Wahl-Surrogaten wie der Wahl zwischen Aldi und Lidl oder der Wahl zwischen RTL und ProSieben, zwischen Infotainment, Dokutainment und Politainment. Und wir müssen nicht nur in Kauf nehmen, sondern sogar fordern, dass sich die äußere Surrogat-Demokratie der inneren Surrogat-Demokratie angleicht und also ein Wahlkampf vor allem an seinem Unterhaltungswert wie am „Mitspiel“-Wert gemessen wird. In Ergänzung zu Crouchs politischer Form der Postdemokratie müssten wir daher auch eine soziale Form der Postdemokratie beschreiben (die Ausbreitung von rechtsfreien Räumen, Inseln der feudalistischen und der mafiösen Herrschaft, Abhängigkeit in der Arbeit und über die Medien, die jenseits der Vorstellung vom freien Individuum liegen). Postdemokratisch ist nicht nur die Sphäre „da oben“, postdemokratisch ist auch unser Alltags-, Arbeits- und Kulturleben...
Georg Seeßlen
Die Wahl der Wahl
Oder auch:
Eine Masse, die ständig die Form wechselt
Ein Falke muss ein konkretes Einzelwesen anvisieren. Eine dichte Masse, die ständig die Form wechselt, sich ruckartig zusammenzieht, pulsiert oder Wellen bildet, überfordert ihn. In der Masse des Schwarms verschwimmen die Konturen der einzelnen Beutetiere zu einem großen Ganzen. Stare bewegen sich ganzjährig in teilweise riesigen Trupps und die ab Mitte Juni selbstständigen Jungvögel bilden ebenfalls sofort Schwärme.
"Stare wissen, was rund sechs bis sieben Nachbarn im Schwarm machen", sagt Berthold. Ändert der Nachbar Richtung, Geschwindigkeit oder Abstand, erlaubt ihre rasche Reaktionsfähigkeit es ihnen, diese Änderung unmittelbar zu registrieren und nachzuvollziehen. Ein Star im Schwarm achtet dabei nicht auf alle Vögel innerhalb eines bestimmten Umkreises, wie frühere Modelle annahmen. Er interessiert sich nur für die bis zu sieben Nachbarn neben, über und unter sich.
Das hat Cavagna herausgefunden, den die faszinierenden Flugmanöver der Stare über Rom und deren Koordination nicht los gelassen haben. Das von ihm geleitete, internationale und interdisziplinäre EU-Projekt Star-Flag hat die Flugfiguren mit Hochgeschwindigkeitskameras fotografiert, die von verschiedenen Standorten synchron zehn Mal pro Sekunde auslösten. "Wir wollten dreidimensional feststellen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten das kollektive Verhalten und die Selbstorganisation einer Masse von Tieren funktionieren."
Ein System aus vielen kleinen Einheiten
Jeder einzelne Vogel versucht vielmehr, in der Mitte seiner Nachbarn zu bleiben, unabhängig davon, wie weit sie entfernt sind. Dies erklärt auch die variierende Dichte eines Schwarms, wenn er sich zusammenballt, auseinanderzieht, teilt und wiedervereint, ohne jedoch auseinanderzufallen. Die Forscher vermuten, dass die Gehirnkapazität des Vogels es nicht zulässt, sich auf mehr Artgenossen gleichzeitig zu konzentrieren. Dabei orientiert er sich nicht in Flugrichtung, da das Sichtfeld seitwärts ausgerichtet und nach vorne eingeschränkt ist.
"Wir haben bewiesen, dass ein System aus vielen kleinen Einheiten, die nur lokal aufeinander wirken, zu einem großen Ganzen mit gemeinsamen allgemeinen Eigenschaften wird", fasst Cavagna zusammen. "Vorher gab es zwar eine Reihe von Modellen und Theorien über Schwärme, aber keinerlei vor allem dreidimensionale Messwerte."Vielfach wurde Schwarmverhalten mittels Computermodellen wie dem von Jens Krause von der Universität in Leeds untersucht. Verhaltensbiologen haben nach dem Beobachten verschiedener Tierschwärme und Menschenmassen einige einfache Regeln abgeleitet, die für jedes Individuum im Schwarm gelten.
Anhand dieser versucht Krause in seiner Computersimulation das Verhalten des Schwarms vorherzusagen. Die Regeln lauten: Bewege dich zum Mittelpunkt deiner Nachbarn und in die gleiche Richtung wie sie, berühre sie nicht und weiche aus, wenn dir jemand zu nahe kommt. Stare, so Cavagnas Messungen, halten mindestens eine Flügelspanne Abstand zu einander. Da alle diese Regeln befolgen, kann jedes Individuum eine Richtungsänderung auslösen, woraufhin der ganze Schwarm sich neu formiert.
Nähert sich ein Feind, verdichtet sich der Schwarm, um das Anvisieren eines einzelnen Vogels zu erschweren, oder er weicht aus, teilt sich vor dem Räuber und fließt dahinter wieder zusammen. Krauses Computermodell hat die Wissenschaftssendung Quarks vor zwei Jahren im Menschen-Experiment überprüft.
Über 200 Freiwillige kamen in den Kölner Messehallen zusammen und schwärmten zunächst nach zwei Regeln umeinander: Bleib in Bewegung und halte immer eine Armlänge Abstand von den anderen Personen um dich herum. Verbale oder mimische Kommunikation war untersagt. Aus einer anfangs ungeordneten Wolke von Gehern formte sich schnell ein ringförmiges Band mit einem Loch in der Mitte.
Beim nächsten Versuch wurde der Schwarm von einem Jäger bedroht und es galt die Zusatzregel: Weiche dem Jäger aus und halte mindestens zwei Armlängen Abstand zu ihm. Das Ergebnis: Der menschliche Schwarm teilte sich vor dem Räuber, fand hinter ihm wieder zusammen und der Räuber konnte keinen Schwärmer erwischen. Fazit: Das Befolgen der einfachen Regeln führt ohne Befehlshaber, Leithammel oder Absprachen immer wieder zu spontaner Ordnung im Schwarm. Jeder einzelne Star handelt unter Beachtung der Regeln für sich alleine. EU-Projekt Star-Flag: http://angel.elte.hu/starling/
FR-online.de
Schwarmintelligenz!
Schwarmverhalten - The Next Social Revolution?!
einer Gesellschaftsform wieder, die die Demokratie mit sich herumschleppt wie einen kranken Verwandten:
... das ist eine Herrschaftsform, die Colin Crouch „Postdemokratie“ genannt hat: ein prekärer Zustand zwischen der Herrschaft des Volkes und der Herrschaft der Konzerne (die sich den Umstand zunutze machen, dass der Staat seine Bürger nicht mehr schützen will): „Das heißt nicht, dass wir in einem nichtdemokratischen Staat leben, der Begriff beschreibt jedoch eine Phase, in der wir gleichsam am anderen Ende der Parabel der Demokratie angekommen sind. Viele Symptome weisen darauf hin, dass dies heute in den Industrienationen der Fall ist, und wir uns vom Ideal der Demokratie fort- und auf das postdemokratische Modell zu bewegen.“
Ein schönes Beispiel für die Symptomatik war eben auf Pro7 zu sehen: hier kam die mediale Inszenierung der Bundestagswahl zu sich selbst: zuerst waren wirkliche Politiker zu Gast, die für den Fleischwarenfachverkäufer den Affen machten, dann wurden Jugendliche - auf widerlichste Weise - vorgeführt, deren politische Unkenntnisse das Ergebnis 1. genau dieser Art von Fernsehen, 2. dieser Art von Politik und 3. des von dieser Art von Politik verordneten Politikunterrichts in den Schulen sind. Herzlichen Glückwunsch. Etwas irritiert war man dann, dass die Linke in vielen Bundesländern die stärkste Partei war - und insgesamt die zweitstärkste (und die FDP die drittstärkste) -, was nun so gedeutet werden könnte: Das Prekariat glotzt Pro7, weiß aber trotzdem, wo die Lampe hängt - oder:
Die Postdemokratie zeichnet sich dadurch aus, dass demokratische und nicht-demokratische Impulse einander durchdringen und dass dieser Prozess der inneren Zersetzung sich nicht in Form von großen Skandalen, Staatsstreichen oder Systemwechseln vollzieht, sondern in Form der schleichenden Erosion, der Gewöhnung, der „Alternativlosigkeit“. Man kann, so scheint es, einfach nichts dagegen machen: gegen die Anfälligkeit für direkte und mehr noch indirekte Korruption; gegen die Entmachtung der Parlamente durch eine Komplizenschaft der Exekutive mit der Wirtschaft; gegen das Privatisieren und Outsourcen, gegen die Erzeugung neuer bildungs- wie politik-, letztlich gar lebensfernen Subgesellschaften, die sich alle Freiheiten nehmen, weil es in ihren Ghettos (Plattenbau, Droge und Fernsehen) nichts zu verlieren gibt; gegen die Medialisierung und Infantilisierung der politischen Kommunikation zu einer Art von Democratainment, in dem Macht- und Entscheidungsfragen allenfalls in Form von Gerüchten und Affären behandelt werden und ansonsten eine Endlos-Show läuft; gegen die digitale Überwachungssucht, die Tendenz der Durchdringung von Wirtschaft und Politik; gegen den Sieg des Systemischen über das Moralische (Eigenart aller Fundamentalismen, so auch des kapitalistischen Fundamentalismus, des so genannten Neoliberalismus: Das System zu erhalten ist das einzig bedeutende Ziel, die Elemente – in diesem Fall: Menschen, Ideen und Projekte, sind demgegenüber völlig gleichgültig); gegen politische Entscheidungen, die aus Sachzwängen und Machtspielen entstehen, die Entstehung rechtsfreier Räume und demokratieresistenter sozialer Milieus; gegen die Auflösung der ideellen und politischen Konkurrenzen der Parteien in innerparteiliche Machtspiele und mediale Popularitätstests. Und so weiter.
Verzweifelt: die Mitte
Demokratische Formen der Regierung und der Kontrolle der Regierung ist das eine, eine Form der inneren Demokratie das andere. Diese „innere Demokratie“ einer Gesellschaft wäre ein System, in dem die einzelnen Elemente zugleich voneinander abhängig sind und voneinander unabhängig: eine Abhängigkeit, die sich aus Interesse und Wert zusammensetzen würde. Unabhängigkeit würde vielleicht mit weniger Sozialprestige und weniger Karriereaussicht, aber nicht mit dem sozialen Tod bedroht. Abhängigkeit wäre ein Pakt auf Zeit, der niemals, ich wiederhole: in einer demokratischen Gesellschaft niemals die Art von Abhängigkeit sein dürfte, die eine nach der Art einer Sklavenhaltergesellschaft von Herrn und Diener ist oder die nach Mafia-Art die einer unauflöslichen, verschworenen Gemeinschaft.
Im Neoliberalismus haben sich die Verhältnisse von Abhängigkeit und Unabhängigkeit ebenso verändert wie die Bedingungen einer politischen Kontrolle der Ökonomie und einer demokratischen Kontrolle der Politik. Wechselseitige Abhängigkeit verdichtet sich in der Mitte. Eine fundamentale zwischenmenschliche und soziale Unabhängigkeit dagegen entwickelt sich an den Rändern: Der Jugendliche U-Bahnschläger, für den es keine Hemmung gibt, einen anderen Menschen totzuprügeln, gleicht darin einem Millionen-Bankmanager, der nichts dabei findet, sein Unternehmen von der Allgemeinheit refinanzieren zu lassen und sich dabei erneut die eigenen Taschen mit „Boni“ vollzustopfen – beide müssen sich von niemandem wirklich abhängig fühlen. Für beide gibt es keine wechselseitige soziale Beziehung mehr, die eine Balance zwischen eigenen Interessen und denen von Mitmenschen oder denen des demokratischen Systems verlangen würde. Jenseits der demokratischen Abhängigkeit verhalten sich Menschen offensichtlich oben wie unten: barbarisch.
Die Mitte versucht verzweifelt, die ohnehin schon ausgeprägte wechselseitige Abhängigkeit noch zu erhöhen: Sie ruft nach noch mehr Kontrolle, meint und trifft dabei allerdings weniger die „unverantwortlichen“ Ränder als sich selbst. In der Mitte ist gegenseitige und hierarchische Abhängigkeit bereits wiederum so ausgeprägt, dass allerorten die Grenzen zwischen der demokratischen und der sklavenhalterischen oder der mafiösen Abhängigkeit überschritten werden. Das Gesetz der Abhängigkeit erlaubt es Menschen in der Mitte nicht nur nicht mehr, ihre Möglichkeiten zu entfalten. Es erlaubt ihnen nicht einmal mehr, ein Bewusstsein, eine Sprache für ihre Gefängnis-Situation zu haben. Wir nennen es Korruption, wir nennen es Feigheit, wir nennen es Unterwerfung; es ist indes nichts anderes als die zur alltäglichen Charaktereigenschaft in einem Lebenszusammenhang der fundamentalen Abhängigkeit gewordene Taktik des Überlebens: Dem Verlust an Wahlmöglichkeiten (und sei es die zwischen Sprechen und Schweigen) begegnen wir mit Wahl-Surrogaten wie der Wahl zwischen Aldi und Lidl oder der Wahl zwischen RTL und ProSieben, zwischen Infotainment, Dokutainment und Politainment. Und wir müssen nicht nur in Kauf nehmen, sondern sogar fordern, dass sich die äußere Surrogat-Demokratie der inneren Surrogat-Demokratie angleicht und also ein Wahlkampf vor allem an seinem Unterhaltungswert wie am „Mitspiel“-Wert gemessen wird. In Ergänzung zu Crouchs politischer Form der Postdemokratie müssten wir daher auch eine soziale Form der Postdemokratie beschreiben (die Ausbreitung von rechtsfreien Räumen, Inseln der feudalistischen und der mafiösen Herrschaft, Abhängigkeit in der Arbeit und über die Medien, die jenseits der Vorstellung vom freien Individuum liegen). Postdemokratisch ist nicht nur die Sphäre „da oben“, postdemokratisch ist auch unser Alltags-, Arbeits- und Kulturleben...
Georg Seeßlen
Die Wahl der Wahl
Oder auch:
Eine Masse, die ständig die Form wechselt
Ein Falke muss ein konkretes Einzelwesen anvisieren. Eine dichte Masse, die ständig die Form wechselt, sich ruckartig zusammenzieht, pulsiert oder Wellen bildet, überfordert ihn. In der Masse des Schwarms verschwimmen die Konturen der einzelnen Beutetiere zu einem großen Ganzen. Stare bewegen sich ganzjährig in teilweise riesigen Trupps und die ab Mitte Juni selbstständigen Jungvögel bilden ebenfalls sofort Schwärme.
"Stare wissen, was rund sechs bis sieben Nachbarn im Schwarm machen", sagt Berthold. Ändert der Nachbar Richtung, Geschwindigkeit oder Abstand, erlaubt ihre rasche Reaktionsfähigkeit es ihnen, diese Änderung unmittelbar zu registrieren und nachzuvollziehen. Ein Star im Schwarm achtet dabei nicht auf alle Vögel innerhalb eines bestimmten Umkreises, wie frühere Modelle annahmen. Er interessiert sich nur für die bis zu sieben Nachbarn neben, über und unter sich.
Das hat Cavagna herausgefunden, den die faszinierenden Flugmanöver der Stare über Rom und deren Koordination nicht los gelassen haben. Das von ihm geleitete, internationale und interdisziplinäre EU-Projekt Star-Flag hat die Flugfiguren mit Hochgeschwindigkeitskameras fotografiert, die von verschiedenen Standorten synchron zehn Mal pro Sekunde auslösten. "Wir wollten dreidimensional feststellen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten das kollektive Verhalten und die Selbstorganisation einer Masse von Tieren funktionieren."
Ein System aus vielen kleinen Einheiten
Jeder einzelne Vogel versucht vielmehr, in der Mitte seiner Nachbarn zu bleiben, unabhängig davon, wie weit sie entfernt sind. Dies erklärt auch die variierende Dichte eines Schwarms, wenn er sich zusammenballt, auseinanderzieht, teilt und wiedervereint, ohne jedoch auseinanderzufallen. Die Forscher vermuten, dass die Gehirnkapazität des Vogels es nicht zulässt, sich auf mehr Artgenossen gleichzeitig zu konzentrieren. Dabei orientiert er sich nicht in Flugrichtung, da das Sichtfeld seitwärts ausgerichtet und nach vorne eingeschränkt ist.
"Wir haben bewiesen, dass ein System aus vielen kleinen Einheiten, die nur lokal aufeinander wirken, zu einem großen Ganzen mit gemeinsamen allgemeinen Eigenschaften wird", fasst Cavagna zusammen. "Vorher gab es zwar eine Reihe von Modellen und Theorien über Schwärme, aber keinerlei vor allem dreidimensionale Messwerte."Vielfach wurde Schwarmverhalten mittels Computermodellen wie dem von Jens Krause von der Universität in Leeds untersucht. Verhaltensbiologen haben nach dem Beobachten verschiedener Tierschwärme und Menschenmassen einige einfache Regeln abgeleitet, die für jedes Individuum im Schwarm gelten.
Anhand dieser versucht Krause in seiner Computersimulation das Verhalten des Schwarms vorherzusagen. Die Regeln lauten: Bewege dich zum Mittelpunkt deiner Nachbarn und in die gleiche Richtung wie sie, berühre sie nicht und weiche aus, wenn dir jemand zu nahe kommt. Stare, so Cavagnas Messungen, halten mindestens eine Flügelspanne Abstand zu einander. Da alle diese Regeln befolgen, kann jedes Individuum eine Richtungsänderung auslösen, woraufhin der ganze Schwarm sich neu formiert.
Nähert sich ein Feind, verdichtet sich der Schwarm, um das Anvisieren eines einzelnen Vogels zu erschweren, oder er weicht aus, teilt sich vor dem Räuber und fließt dahinter wieder zusammen. Krauses Computermodell hat die Wissenschaftssendung Quarks vor zwei Jahren im Menschen-Experiment überprüft.
Über 200 Freiwillige kamen in den Kölner Messehallen zusammen und schwärmten zunächst nach zwei Regeln umeinander: Bleib in Bewegung und halte immer eine Armlänge Abstand von den anderen Personen um dich herum. Verbale oder mimische Kommunikation war untersagt. Aus einer anfangs ungeordneten Wolke von Gehern formte sich schnell ein ringförmiges Band mit einem Loch in der Mitte.
Beim nächsten Versuch wurde der Schwarm von einem Jäger bedroht und es galt die Zusatzregel: Weiche dem Jäger aus und halte mindestens zwei Armlängen Abstand zu ihm. Das Ergebnis: Der menschliche Schwarm teilte sich vor dem Räuber, fand hinter ihm wieder zusammen und der Räuber konnte keinen Schwärmer erwischen. Fazit: Das Befolgen der einfachen Regeln führt ohne Befehlshaber, Leithammel oder Absprachen immer wieder zu spontaner Ordnung im Schwarm. Jeder einzelne Star handelt unter Beachtung der Regeln für sich alleine. EU-Projekt Star-Flag: http://angel.elte.hu/starling/
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Schwarmintelligenz!
Schwarmverhalten - The Next Social Revolution?!
gebattmer - 2009/09/25 22:15
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