Archäologie (CDLXXX): Ein Test zum 08.01.2016
„Geschichte „lernen“ heißt die Kräfte suchen und finden, die als Ursachen zu jenen Wirkungen führen, die wir dann als geschichtliche Ereignisse vor unseren Augen sehen. Die Kunst des Lesens wie des Lernens ist auch hier: Wesentliches behalten, Unwesentliches vergessen.“
Und? Kann man so sehen? Ist was dran? Muss man das nicht mal so sagen dürfen?
Wenn Sie das jetzt bejaht haben, haben wir ein Problem. Als Geschichtslehrer*in wären Sie mE ungeeignet, denn was sagt das Zitat aus Hitlers "Mein Kampf" und wie muss es gedeutet werden?
[Heute ist erschienen: Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition; hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel unter Mitarbeit von Edith Raim, Pascal Trees, Angelika Reizle, Martina Seewald-Mooser]
Lesebefehl!!
Leseprobe:
Abgesehen davon, dass immerhin gefragt werden muss, ob nicht diese kommentierte Ausgabe ein obskures Unternehmen ist (vgl. Jeremy Adler: Gegenüber dieser Spottgeburt von Wahn und Mord hört jedes Kommentieren auf - das kann auch eine kritische Ausgabe nicht ändern. Süddeutsche Zeitung 06.01.2016) verstehe ich den Hype nicht, den die Kultusminister*innen darum machen. Ingendwie soll das unverkrampft, offen für Neues und volksnah wirken.
Seeßlen: „Mein Kampf“ wird bei deutschen Lesern offenbar sehnlichst erwartet.
Angeführt wurde diese seltsame Werbekampagne von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU), die gefordert hat, die kommentierte Neuausgabe von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ bundesweit im Schulunterricht einzusetzen. „Die kritische Edition vom Institut für Zeitgeschichte München hat genau das Ziel, zur politischen Bildung beizutragen und ist entsprechend allgemeinverständlich geschrieben“, sagte Wanka der Zeitung „Passauer Neue Presse“.
Sie begrüße es, „dass einem breiten Publikum damit eine wissenschaftlich fundierte Einordnung zur Verfügung steht und die Aussagen Hitlers nicht unwidersprochen bleiben“. (FAZ)
Was für ein Phrasenauswurf mit schwach verankerten Sinngeländern: Eine kritische Edition ist allgemeinverständlich geschrieben?? Keine Vorstellung davon, dass man den Aussagen Hitlers nicht widersprechen kann, weil schon das Widersprechen ein Sich-Einlassen auf das Wahnsystems bedeutet, das den Aussagen zugrunde liegt. Wenn man nicht - wie Seeßlen das zeigt - mit einem theoretisch fundierten Blick auf das faschistische Subjekt an den Text herangeht, ist man ihm hilflos ausgeliefert, weil er - auch das macht Seeßlen sehr gut deutlich - anschlussfähig ist an aktuell virulente Denkmuster (bzw. umgekehrt!).
Thüringens Bildungsministerin Birgit Klaubert (Linke) fordert eine Entscheidung der Kultusministerkonferenz. Dem MDR sagte sie, ihr persönlicher, humanistischer Anspruch und der Respekt vor den Millionen Opfern der Nazidiktatur sagten allerdings „Nein“. (Thüringer Allgemeine) Immerhin.
Aber hier muss mehr geschehen! Ich hoffe, dass Jeremy Adlers Aufsatz "Das absolut Böse - Am Freitag erscheint eine kritische Ausgabe von "Mein Kampf" - Das darf nicht sein (Süddeutsche Zeitung, 07.01.2016) doch noch allgemein zugänglich gemacht wird und Anstoß zu einer dringend notwendigen Debatte wird! Jeremy Adler im Gespräch mit Jasper Barenberg: "Dieses Buch beinhaltet noch eine Gefahr" (Deutschlandfunk)
Anders sieht das Gert Ueding im FREITAG: Versachlichung des Gegenteils - Die kommentierte Ausgabe von Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ wird heftig kritisiert. Dabei sind ihr enorme Verdienste anzurechnen
Und? Kann man so sehen? Ist was dran? Muss man das nicht mal so sagen dürfen?
Wenn Sie das jetzt bejaht haben, haben wir ein Problem. Als Geschichtslehrer*in wären Sie mE ungeeignet, denn was sagt das Zitat aus Hitlers "Mein Kampf" und wie muss es gedeutet werden?
[Heute ist erschienen: Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition; hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel unter Mitarbeit von Edith Raim, Pascal Trees, Angelika Reizle, Martina Seewald-Mooser]
- Klarer kann man nicht sagen, dass von der Welt nur wahrgenommen werden soll, was ins eigene Wahnsystem passt. Die Beziehung des faschistischen Subjekts zur Welt besteht nicht in einem dialogischen Verhältnis, sondern in einem architektonischen: Er baut sich aus den Trümmern, in die er die Welt vor seinen Augen legt, eine Todesfabrik.
Lesebefehl!!
Leseprobe:
- „Mein Kampf“ ist ein Modell rechter Erbauungs-, Propaganda- und Selbstvergewisserungsliteratur, es hat sich weder in der Sprache noch in der Methode viel geändert. Rechte Pamphlete lesen sich, als wäre „Mein Kampf“ dazu nicht nur Modell sondern auch Anleitung gewesen. Das Buch ist interessanterweise dem durchaus zeitgemäßen Montage- und Sampling-Stil entsprechend: Es liest sich wie ein Text, wie man ihn derzeit häufig im Internet lesen kann. Der erste Teil entstand in der Festungshaft, was natürlich einen Authentizitätsbonus verleiht, wo sich allerdings der Zugang zu Büchern nicht gar so einfach gestaltete, vielleicht auch gar nicht angestrebt war, und wirkt damit als eine Art Freestyle über all den Unfug, den man sich angelesen und angeeignet hatte. Hitler selbst behauptete, sein Buch sei so etwas wie eine Ansammlung von Artikeln, die ebenso gut im Völkischen Beobachter erschienen sein könnten, aber nicht einmal das beschreibt den Mangel an Kontinuität und das gehäufte Auftreten von Redundanzen, unsinnigen Abschweifungen und schrägem Selbst-Echo. Es wird kein Unterschied gemacht zwischen schriftlicher und mündlicher Rede: Schon am Beginn wird sofort geswitched von einer biographischen Nichtigkeit, der Geburt im Grenzstadtchen Braunau, ins ideologische Gegeifere: „Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande, und zwar nicht aus Gründen irgendwelcher wirtschaftlichen Erwägungen heraus. Nein, nein: Auch wenn diese Vereinigung, wirtschaftlich gedacht, gleichgültig, ja selbst wenn sie schädlich wäre, sie müßte dennoch stattfinden. Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames R e i c h.“ Und das, wie gesagt, erkennt unser Autor, weil er das Glück hatte, in einer Grenzstadt geboren zu sein. Verfluchtes Braunau! ...
Auch der Trick der Negation einer vermeintlichen Selbstkränkung wird reichlich angewandt: „Das deutsche Volk besitzt solange kein moralisches Recht zu kolonialpolitischer Tätigkeit, solange es nicht einmal seine eigenen Söhne in einem gemeinsamen Staat zu fassen vermag.“ Sätze wie dieser enthalten bereits das gesamte Wahnsystem und die gesamte Politik, und das Eckengespräch des Jahres 2012 vor’m C&A: Selbsterniedrigung (wir Deutschen sind ja so dumm, dass…) und Selbsterhöhung (aber wartet nur…) in einem Satz vereint. Möglicherweise geht es nicht darum, wie uns die mehr oder weniger Verantwortlichen für die kommentierte Ausgabe weismachen wollen, „Mein Kampf“ aus sicherer historischer Entfernung zu lesen, als vielmehr darum, mit „Mein Kampf“ das allgemeine, in großen Teilen Mainstream-fähige Dumpf-Sprech von heute zu lesen...
Auch die terroristischen Texte, Bilder und Narrative, diesen Brei aus faschistischer Historie, Pop-Kultur und Mythologie nebst einer kreisförmigen Selbstermächtigung zur niederträchtigsten Tat, lassen sich mit „Mein Kampf“ dekonstruieren. „Erst wenn des Reiches Grenze auch den letzten Deutschen umschließt, ohne mehr die Sicherheit seiner Ernährung bieten zu können, ersteht aus der Not des eigenen Volkes das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens.“ Grandiose Argumentation; so verstehen wir recht: Der Mangel, der Überdruck an sich selbst, muss erzeugt werden als Rechtfertigung für die Explosion und Expedition nach außen. Man erzeugt den Kriegsgrund (den Mord-Grund) in sich selbst; man erzeugt, und anders hat es auch ein Anders Breivik nicht gemacht, „vernünftig“ den Wahn, den man zur Explosion bringen will. Schon in seinem Text also hebt der Faschismus die Unterscheidung zwischen „ideologischer Verblendung“ und „Wahnsystem“ auf. Daher ist es ein vollkommenes Unding, mit einem Text wie dem von „Mein Kampf“ argumentieren zu wollen, ihn zu widerlegen oder zu entlarven. Wenn der Text in ein bereits vorhandenes Wahnsystem/System einer Verblendung eindringt, kann er dort nur „expodieren“....
Man kann dieses Buch im Zeitalter des Internet gewiss nicht mehr „verbieten“, und das Verbot ist ohnehin kein sonderlich sinnvolles Instrument. Aber gibt uns das das Recht mit einem solchen Text umzugehen, als wäre er nur noch Geschichte und Dokument. Als wäre das Geld, das in „politische Bildung“ gepumpt worden ist, Rechtfertigung für eine Immunität des deutschen, nun ja, Volkes gegen die Blasen aus seinem braunen Sumpf. Immer noch redet dieser Text dem Bürger, der vor dem entsetzt ist, was er angerichtet hat, aus dem Herzen. Wollen wir wirklich wissen, wie viele Sätze aus „Mein Kampf“ begeisterte oder klammheimliche Zustimmung erhalten würden? Wir kommen um die Frage nicht herum. Wir werden mit diesem Buch nicht die Vergangenheit lesen, sondern die Gegenwart.
Georg Seeßlen, Jungle World, 28-06-2012
Abgesehen davon, dass immerhin gefragt werden muss, ob nicht diese kommentierte Ausgabe ein obskures Unternehmen ist (vgl. Jeremy Adler: Gegenüber dieser Spottgeburt von Wahn und Mord hört jedes Kommentieren auf - das kann auch eine kritische Ausgabe nicht ändern. Süddeutsche Zeitung 06.01.2016) verstehe ich den Hype nicht, den die Kultusminister*innen darum machen. Ingendwie soll das unverkrampft, offen für Neues und volksnah wirken.
Seeßlen: „Mein Kampf“ wird bei deutschen Lesern offenbar sehnlichst erwartet.
Angeführt wurde diese seltsame Werbekampagne von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU), die gefordert hat, die kommentierte Neuausgabe von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ bundesweit im Schulunterricht einzusetzen. „Die kritische Edition vom Institut für Zeitgeschichte München hat genau das Ziel, zur politischen Bildung beizutragen und ist entsprechend allgemeinverständlich geschrieben“, sagte Wanka der Zeitung „Passauer Neue Presse“.
Sie begrüße es, „dass einem breiten Publikum damit eine wissenschaftlich fundierte Einordnung zur Verfügung steht und die Aussagen Hitlers nicht unwidersprochen bleiben“. (FAZ)
Was für ein Phrasenauswurf mit schwach verankerten Sinngeländern: Eine kritische Edition ist allgemeinverständlich geschrieben?? Keine Vorstellung davon, dass man den Aussagen Hitlers nicht widersprechen kann, weil schon das Widersprechen ein Sich-Einlassen auf das Wahnsystems bedeutet, das den Aussagen zugrunde liegt. Wenn man nicht - wie Seeßlen das zeigt - mit einem theoretisch fundierten Blick auf das faschistische Subjekt an den Text herangeht, ist man ihm hilflos ausgeliefert, weil er - auch das macht Seeßlen sehr gut deutlich - anschlussfähig ist an aktuell virulente Denkmuster (bzw. umgekehrt!).
Thüringens Bildungsministerin Birgit Klaubert (Linke) fordert eine Entscheidung der Kultusministerkonferenz. Dem MDR sagte sie, ihr persönlicher, humanistischer Anspruch und der Respekt vor den Millionen Opfern der Nazidiktatur sagten allerdings „Nein“. (Thüringer Allgemeine) Immerhin.
Aber hier muss mehr geschehen! Ich hoffe, dass Jeremy Adlers Aufsatz "Das absolut Böse - Am Freitag erscheint eine kritische Ausgabe von "Mein Kampf" - Das darf nicht sein (Süddeutsche Zeitung, 07.01.2016) doch noch allgemein zugänglich gemacht wird und Anstoß zu einer dringend notwendigen Debatte wird! Jeremy Adler im Gespräch mit Jasper Barenberg: "Dieses Buch beinhaltet noch eine Gefahr" (Deutschlandfunk)
Anders sieht das Gert Ueding im FREITAG: Versachlichung des Gegenteils - Die kommentierte Ausgabe von Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ wird heftig kritisiert. Dabei sind ihr enorme Verdienste anzurechnen
gebattmer - 2016/01/08 18:16
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