Wenn ein Millionenheer von Flüchtlingen ... (XVII) : MEDITERRANEA - Il Muro Occidentale o del Pianto - Die Schutzbefohlenen, Coda/Appendix - Der Flüchtling sollte als das betrachtet werden, was er ist: Nichts als eine Idee von Grenze.
MEDITERRANEA - Regie: Jonas Carpignano; mit Koudous Seihon, Alassane Sy; Italien/ Frankreich u. a. 2015 (DCM); 110 Minuten
Eine Kritik von Andreas Busche (KONKRET/Spot On):
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Degradiert zum rechtlosen Wesen
Was bedeutet es eigentlich, wenn ein Staat die Wertsachen von Flüchtlingen konfisziert? Über die Person, das Eigentum und die besondere Brutalität eines dänischen Gesetzes.
Von Thomas Steinfeld (Süddeutsche Zeitung, 27. Januar 2016)
Etwas Besseres als den Tod
In Europa, genauer: innerhalb der Euro-
päischen Union und der mit ihr eng verbun-
denen Staaten, hat sich in den vergange-
nen zwei Jahrzehnten ein Missverständnis
durchgesetzt, das durch das Schengener
Abkommen befördert wurde: dass man
sich in diesem Raum als Mensch und
Rechtssubjekt frei bewegen könne. Oder
anders gesagt: Die beteiligten Staaten ha-
ben sich darauf geeinigt, unter gewissen
Bedingungen Rechtssubjekte anderer Staa-
ten wie eigene Rechtssubjekte zu behan-
deln. Solche Bedingungen gelten aber
nicht für Menschen, die aufgrund ihrer
Herkunft als rechtlos und aufgrund ihrer
fehlenden Qualifikationen als unbrauch-
bar erscheinen. Tauchen sie dennoch an
den Grenzen Europas auf, werden sie da-
her gleichsam doppelt zurückgewiesen:
als Menschen und als Wesen, denen Rech-
te zugesprochen werden. Und so heißt es
zwar über die Menschenrechte, sie seien
universal. Tatsächlich aber gibt es sie nur
dort, wo ein Nationalstaat ihnen zur Gel-
tung verhilft. Und das zu tun, sind die Staa-
ten der Europäischen Union nicht gewillt.
Eine Kritik von Andreas Busche (KONKRET/Spot On):
- Im Januar 2010 sorgte die kalabrische Stadt Rosarno an der Südspitze Italiens international für Schlagzeilen, die in vielen Ländern Europas derzeit wieder sehr vertraut klingen. Halbstarke schossen mit Luftgewehren auf afrikanische Migranten, die anschließenden Proteste führten zu gewaltsamen Ausschreitungen, worauf sich die Einwohner der italienischen Kleinstadt zu einem Mob zusammenschlossen und die Afrikaner durch die Straßen jagten. Tausende Männer und Frauen mussten am Ende in Bussen an einem anderen Ort in Sicherheit gebracht werden. In Rosarno war es in der Vergangenheit wiederholt zu rassistischen Zwischenfällen gekommen, da viele Flüchtlinge aus Afrika auf ihrem Weg über das Mittelmeer in der kleinen Küstenstadt landen, die von der kalabrischen Mafia ’Ndrangheta kontrolliert wird. Zwei Jahre vor den Unruhen hatte bereits die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen die menschenunwürdigen Zustände auf den regionalen Orangenplantagen kritisiert, auf denen afrikanische Migranten für einen Hungerlohn arbeiten – von dem ein Großteil als Schutzgeld an die Mafia geht...
»Mediterranea« vermittelt ein etwas anderes Bild von den modernen Flüchtlingsbewegungen, als es die westlichen Medien derzeit tun...
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Der Flüchtling hat nichts als das, was er bei sich trägt
Die Installation "Il Muro Occidentale o del Pianto" von Fabio Mauri.
Degradiert zum rechtlosen Wesen
Was bedeutet es eigentlich, wenn ein Staat die Wertsachen von Flüchtlingen konfisziert? Über die Person, das Eigentum und die besondere Brutalität eines dänischen Gesetzes.
Von Thomas Steinfeld (Süddeutsche Zeitung, 27. Januar 2016)
- ... Doch ist das, was in Dänemark geschieht, nur eine besonders hässliche Seite eines Verfahrens, das an allen Grenzen innerhalb Europas praktiziert wird. Seine andere, noch brutalere Seite liegt gegenwärtig zum Beispiel in der Ägäis: Wenn europäische Politiker fordern, Griechenland müsse die Grenze zur Türkei besser "kontrollieren", fragt das griechische Militär zu Recht zurück, ob es nun die Boote der Flüchtlinge versenken solle.
"Der Flüchtling", hatte der italienische Philosoph Giorgio Agamben vor vielen Jahren in einem berühmten Aufsatz erklärt, "sollte als das betrachtet werden, was er ist: nichts als eine Idee von Grenze." Wenn er ertrinkt, tut er das als Mensch, nicht als Person.
Etwas Besseres als den Tod
In Europa, genauer: innerhalb der Euro-
päischen Union und der mit ihr eng verbun-
denen Staaten, hat sich in den vergange-
nen zwei Jahrzehnten ein Missverständnis
durchgesetzt, das durch das Schengener
Abkommen befördert wurde: dass man
sich in diesem Raum als Mensch und
Rechtssubjekt frei bewegen könne. Oder
anders gesagt: Die beteiligten Staaten ha-
ben sich darauf geeinigt, unter gewissen
Bedingungen Rechtssubjekte anderer Staa-
ten wie eigene Rechtssubjekte zu behan-
deln. Solche Bedingungen gelten aber
nicht für Menschen, die aufgrund ihrer
Herkunft als rechtlos und aufgrund ihrer
fehlenden Qualifikationen als unbrauch-
bar erscheinen. Tauchen sie dennoch an
den Grenzen Europas auf, werden sie da-
her gleichsam doppelt zurückgewiesen:
als Menschen und als Wesen, denen Rech-
te zugesprochen werden. Und so heißt es
zwar über die Menschenrechte, sie seien
universal. Tatsächlich aber gibt es sie nur
dort, wo ein Nationalstaat ihnen zur Gel-
tung verhilft. Und das zu tun, sind die Staa-
ten der Europäischen Union nicht gewillt.
Die Schutzbefohlenen, Coda/Appendix - Elfriede Jelinek
- „Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“, sagt der Chor in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen. Obwohl sie in jüngster Zeit überall präsent sind, die Bilder von Flüchtlingsmengen, die sich auf Booten drängen und die Festung Europa zu erobern suchen, oder von aufbegehrenden Asylbewerbern in deutschen Städten, die auf öffentlichen Plätzen in den Hungerstreik treten; Stimmen haben diese Menschen selten. Anders in Jelineks Text: Hier meldet sich ein Chor aus Flüchtlingen und Asylsuchenden in einer lautstarken Litanei zu Wort und wird doch ungehört bleiben von den Angerufenen. Geschrieben als Reaktion auf jüngste Asylproteste in Wien, wo eine Gruppe von Flüchtlingen die Votivkirche besetzte, und später durch Zusatztexte zur Flüchtlingssituation auf Lampedusa erweitert, überführt Elfriede Jelinek in Die Schutzbefohlenen das Tagespolitische ins uralte Menschheitsdrama von Flucht und Abweisung: Die nur puzzleartig aufscheinenden aktuellen Ereignisse verweben sich mit anderen Texten und Diskursen, unter anderem mit Die Schutzflehenden des Aischylos. Aus den Schutzflehenden in der ältesten bekannten griechischen Tragödie werden aber vor dem Hintergrund von aufgeklärter westlicher Welt und vermeintlich allgemein gültigen humanistischen Werten die Schutzbefohlenen: also diejenigen, denen man verpflichtet ist, Schutz zu geben. Und es wird die Verweigerung dieses Schutzes nicht weniger als zum Verrat am Menschenrechtsgedanken selbst. ...
Jelinek hat zwei Ergänzungen geschrieben, Coda und Appendix. Es sind verzweifelte, persönliche Texte über das Schicksal von Flüchtlingen. Jelinek trägt sie selbst vor, eine schauspielerische Distanz gibt es nicht. Die Ergänzungen sind keine Kapitulation der Kunst vor dem Leben, Jelinek versteht sich nach wie vor auf ihre Mittel. Aber sie ringt diesmal stark darum, das zu Sagende tatsächlich zu formulieren. Verstummen kann und will sie hier nicht. Umso mehr erschrickt man im Appendix, als es um den Tod geht: "Habt acht, ihr werdet mich nicht mehr oft hören." Das ist Erzähler-Fiktion, aber wohl auch ein Stück der Jelinek'schen Persönlichkeit. Ein Hinweis darauf, dass die Dinge zu groß werden und die Kraft nicht ewig reicht, sich ihnen zu stellen. (Diese Stimme - Süddeutsche, 28. Januar 2016)
- "Die Eroberung der Welt als Bild, das war einmal, denn Bild ist ja Herstellen. Die Menschen werden aber nicht hergestellt, und sie bleiben nicht, wo sie hingestellt werden. Sie kämpfen um ihre Stellung, das ist keine Stellung, so wie Sie sich das vorstellen, das ist einfach, wie sie sind. Sie haben es aufgegeben, dem Seienden ein Maß zu geben, denn das Maß ist noch nicht geschöpft, in das sie hineingehen. Sie gehen aber. Sie gehen weiter. Keine sonnengebräunten Wangen, aber wunde Herzen, tränenkundig, ja, weinen, das können sie. Sie müssen es können, alle außer Ärzten und Sehern, denen es schon vergangen ist, müssen es können. Was, Sie hatten drei Kinder, und jetzt sind es nur noch zwei, das dritte, zufällig drei Jahre alt, fehlt plötzlich? Das ist noch gar nichts im Vergleich zu anderen, die es gar nicht mehr gibt, beruhigen Sie sich!"
Elfriede Jelinek, 'Die Schutzbefohlenen, Appendix'
gebattmer - 2016/01/29 19:26
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