Wenn ein Millionenheer von Flüchtlingen ... (XIX) : Asyl und Arbeit
Gustav Seibt empfiehlt heute in der Süddeutschen Zeitung einen Aufsatz von Dirk Hoerder - Arbeitsmigration und Flucht vom 19. bis ins 21. Jahrhundert (Mittelweg 36, Heft 1 – Februar/März: Wandern. Zur Globalgeschichte der Migration)
Ein Auszug aus Hoerders Aufsatz als teaser:
Knock Knock (1961) - This Week's Lichtenstein #28 - If Charlie Parker Was a Gunslinger
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Ein Auszug aus Hoerders Aufsatz als teaser:
- Schon einer der Urtexte westlicher Zivilisation thematisiert Migrationsbewegungen. Das Alte Testament berichtet von zwei mit prinzipiellen Fragen befassten Dissidenten, Eva und Adam genannt, die mit dem Schwert des Landes vertrieben wurden. Für diejenigen, die diese Begebenheit einst aufgezeichnet haben, war die Geschichte vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten eine ihre Identität stiftende Erzählung. (...)
Mehr als zwei Jahrtausende später, etwa um 1800, litten die Menschen in der »Europa« genannten Großregion schlimme Not. In vielen Landstrichen gab es weder Milch noch Honig und trotz harter körperlicher Arbeit nicht einmal genug Brot zum Leben. Viele traten, zur Migration genötigt, die Wanderung za chlebem, ad panem an. Allerdings boten sich ihnen in den Städten Europas kaum Erwerbsmöglichkeiten. (...) Bereits nach dem Einschnitt der Französischen Revolution und der sich seit dem Wiener Kongress 1815 europaweit formierenden Reaktion hatten viele Millionen Männer und Frauen mitsamt ihren Kindern Europa verlassen. Die Verheerungen der beiden Weltkriege sorgten im 20. Jahrhundert dafür, dass der Strom derer, die dem Kontinent den Rücken zukehrten, nicht abriss. Bis 1955 waren etwa 55 Millionen Menschen abgewandert, darunter allein aus den Gebieten, die seit 1871 das Deutsche Reich ausmachten, etwa 7 Millionen Deutschsprachige. Die allermeisten von ihnen waren, um es in der polemischen Diktion der Gegenwart zu sagen, Wirtschaftsflüchtlinge. (...)
- ... Langfristig haben Migrationssysteme die Tendenz, sich selbst zu regulieren - wo Chancen fehlen, bleiben bald auch die Migranten aus. Allerdings setzt das die Abhilfe bei elementarer Not voraus - im jüngsten Fall Syrien hat es eine kurzsichtige europäische Politik sogar daran fehlen lassen. Fatal ist auch die Steuerung durch den Flaschenhals eines Asylrechts, das nur unvollkommen auf die Wirklichkeit und die völkerrechtlichen Regelungen der Fluchtbewegungen vor Krieg und Verfolgung antwortet. Hier hat sich, wie Didier Fassin im selben Heft (Vom Rechtsanspruch zum Gunsterweis. Zur moralischen Ökonomie der Asylvergabepraxis im heutigen Europa) darlegt, seit den Siebzigerjahren eine fatale Veränderung vollzogen: Je exklusiver und moralisch höher bewertet das Recht auf Asyl wurde, umso misstrauischer wurden diejenigen geprüft, die es in Anspruch nehmen wollen.
Heute liegen in Mitteleuropa die Ablehnungsquoten bei neunzig Prozent, während in den Siebzigerjahren die meisten Bewerber noch anerkannt wurden - Folge eines veränderten Arbeitsmarkts, der wirtschaftliche Migration fast ausschließt und das Phantasma des "Asylschwindlers" hervorbrachte. Damit geht eine bezeichnende Veränderung der Anerkennungsgründe einher: Die besten Aussichten haben nicht mehr politisch oder religiös Verfolgte, sondern Frauen, die vor drohender Genitalverstümmelung fliehen, und Homosexuelle. Die Gewährung von Asyl wird zur Demonstration genderpolitischer Liberalität im Kampf der Kulturen, zur globalen Maßnahmepädagogik.
Knock Knock (1961) - This Week's Lichtenstein #28 - If Charlie Parker Was a Gunslinger
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gebattmer - 2016/02/15 18:35
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