Aus der sozialen Überdruckkammer (VIII): Denunziant erster Klasse
Eine schöne kleine Milieustudie von Wiglaf Droste (junge welt 27.09.2016)
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- Freund Axel aus Hamburg erzählt, wie er von Berlin aus mit dem ICE zurückfuhr. Der Zug, bestehend aus zwei aneinandergekoppelten ICEs, hielt auf freier Strecke. Die Lautsprecherdurchsage meldete einen »technischen Defekt«; weitere Informationen würden folgen. Sie folgten: Einer der beiden Züge war defekt, die Fahrgäste wurden gebeten, in den anderen Zug umzusteigen. Axel, im Besitz einer Fahrkarte zweiter Klasse, sah sofort, dass die Reisenden sich in der zweiten Klasse ballten, stapelten und zusammenklumpten, und tat, was jeder vernünftige, halbwegs eigenständig entscheidungsfähige Mensch in einer solchen Situation tut: Er suchte sich einen freien Platz in der ersten Klasse und setzte sich.
Die Schaffnerin vulgo Zugbegleiterin kam durch den Waggon; sie kontrollierte die Billetts der Fahrgäste nicht. Ein Erste-Klasse-Reisender stand auf und machte sich lauthals bemerkbar. Ob sie denn die Fahrkarten nicht kontrollieren wolle, fragte er die Schaffnerin, er habe das Gefühl – wobei er einmal von oben herab ins Rund sah –, dass jetzt auch Zweite-Klasse-Fahrgäste in der ersten Klasse säßen.
Die Zugbegleiterin ließ das kalt. Sie werde nicht kontrollieren, konterte sie, die Fahrgäste könnten schließlich nichts dafür, dass einer von zwei Zügen defekt sei. Sie ging ihrer Wege; ein First-Class-Denunziant, der Geld mit einem Statussymbol verwechselte, mit einem Mittel der Hierarchisierung, sah ihr missmutig nach. Seine erkauften Privilegien waren hinfällig, und so blieb ihm nichts als er selbst, eine Mischung aus Blasiertheit, Denunzianz und Ignorantentum. Das Blasenleben ist verratzt, wenn die Dünkelblase platzt.
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gebattmer - 2016/10/10 20:16
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