Aus der sozialen Überdruckkammer (XI): Deutschland als Prothese
- Reichsbürger horten Waffen, sind antisemitisch und verfassungsfeindlich. Die Gefahr, die von ihnen ausgeht, wird noch immer unterschätzt.
Interessantes Feature bei swr2. Hier nachzuhören.
Für mich hat - wie so oft - der Postillon das Phänomen erhellend erledigt:
Donnerstag, 20. Oktober 2016
Ausnahmsweise: "Reichsbürger" wird nach Gesetzen des Deutschen Reichs hingerichtet
Nürnberg (dpo) - Es ist eine historische Ausnahme: Weil er die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennt, soll der "Reichsbürger" Wolfgang P., der am Mittwoch in Georgensgmünd einen Polizeibeamten tödlich verletzte, gemäß den Gesetzen des Deutschen Reiches (1871-1945) hingerichtet werden. Das teilte das Landgericht Nürnberg-Fürth mit...
- Götz Eisenberg
Deutschland als Prothese
Wozu nationale Identität?
[Der Aufsatz erschien zuerst im August 1996 in der Zeitschrift „Die neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“. Aufgrund seiner uneingeschränkten Aktualität haben sich Götz Eisenberg und die Redaktion entschlossen, den Aufsatz 21 Jahre später in der Originalfassung erneut zu veröffentlichen.]
Zeiten der Krise lassen den privaten Wahn und die Idiosynkrasien üppig ins Kraut
schießen. Der forcierte gesellschaftliche Wandel lockert traditionelle Anpassungsge füge
und lässt lebensgeschichtlich erworbene Orientierungsmuster und Modi der Selbst-
wertregulation hinfällig werden. Das wachsende Auseinanderklaffen der lebensgeschichtlichen
Prägungen und aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen macht krank und verrückt:
Menschen, die an tradierten Denk- und Verhaltensmustern festhalten, die von außen nicht
mehr gestützt und bestätigt werden, geraten schnell in eine Position abseitiger Starrheit, die
wahnhafte Züge annehmen kann. Der Wahnsinnspegel innerhalb der Bevölkerung steigt,
bis eines Tages einer kommt und den Privatwahn zum Prinzip erhebt und politisch in Gang
setzt. Der Privatwahn verschwindet in der Verrücktheit des Ganzen. Dem einzelnen Halbirren
wird, nach den Worten von Ernst Simmel, auf diese Weise erspart, ein ganzer zu werden.
Die Menschen, jene kleinen überspannten Säugetiere, über die die Katastrophe des
Denkens hereingebrochen ist, haben das unabweisbare Bedürfnis, sich in Raum und Zeit,
Geschichte und Gesellschaft zu lokalisieren, eine Ortsbestimmung ihres Lebenszusammenhangs
vorzunehmen. Der Mensch, sagt Ernst Bloch, lebt nicht vom Brot allein, besonders
wenn er keines hat. Wie immer ist es die politische Rechte, die mit ihrem Billigangebot der
„nationalen Identität“, früher nannte man das „völkische Gesinnung“, zur Stelle ist, um den
metaphysischen Hunger der Leute zu stillen...
- "Die Idee der Nation, in der einmal sich die wirtschaftliche Einheit der Interessen freier und selbstständiger Bürger gegenüber den territorialen Schranken der Feudalismus zusammenfaßte, ist selbst, gegenüber dem offensichtlichen Potential der Gesamtgesellschaft, zur Schranke geworden. Aktuell aber ist der Nationalismus insofern, als allein die überlieferte und psychologisch eminent besetzte Idee der Nation, stes noch Ausdruck der Interessensgemeinschaft in der internationalen Wirtschaft, Kraft genug hat, Hunderte von Millionen für Zwecke einzuspannen, die sie nicht unmittelbar als die ihren betrachten können. Der Nationalismus glaubt sich selbst nicht ganz mehr und wird doch benötigt als wirksamstes Mittel, die Menschen zur Insistenz auf objektiv veralteten Verhältnissen zu bringen."
Theodor W. Adorno: "Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit" Gesammelte Schriften 10.2. Kulturkritik und Gesellschaft II: Eingriffe. Stichworte. Anhang by Theodor W. Adorno (Suhrkamp: Frankfurt/Main, 1977) 555-572. Via Welcome @ trueten.de
gebattmer - 2017/08/09 18:09
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