Re: Schockwellenreiter → Archiv → Januar 2018 → Die Text-Taliban kommen
Ich zitiere:
- Der Streit um Gomringer-Gedicht auf Uni-Fassade eskaliert – Die »Alleen« werden übertüncht. 2011 hatte Eugen Gomringer, bolivianisch-schweizerischer Schriftsteller und Begründer der »Konkreten Poesie« den Alice Salomon Poetik Preis erhalten. Die damalige Hochschulleitung entschied daraufhin, sein spanischsprachiges Gedicht »Avenidas«, also »Alleen«, an die Fassade anzubringen und zahlte eine Lizenzgebühr. Der Schriftsteller hatte die Verse 1951 veröffentlicht. Also vor 67 Jahren. Übersetzt klingen sie so:
Alleen
Alleen und Blumen
Blumen
Blumen und Frauen
Alleen
Alleen und Frauen
Alleen und Blumen und Frauen und
ein Bewunderer
Doch den Studentinnen- und Studentenvertretern hat offenbar die Gender-Ideologie ins Gehirn geschissen: In einem offenen Brief kritisierte der ASTA der Hochschule im Frühjahr 2016 das Gedicht. Es reproduziere nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, es erinnere zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt seien – gerade auch am U-Bahnhof Hellersdorf (mich schaudert es: der Dorfbahnhof Hellersdorf, ein Hort der sexuellen Gewalt) und dem Alice-Salomon-Platz. Das Gedicht müsse entfernt oder ersetzt werden. Eugen Gomringer erklärte im vergangenen Jahr im Deutschlandfunk Kultur, er habe mit wenigen Worten eine Stimmung hervorrufen wollen. Gender-Sprache und politische Korrektheit hätten damals keine Rolle gespielt.
Mir kommt es vor, wie der Vorgang einer Säuberung. Da wird etwas weggesäubert durch eine andere Ideologie, die das verdrängen soll. Und darüber muß man reden, ob das gerechtfertigt ist.
Die Hochschulleitung gab diesem barbarischen Schwachsinn nach und will noch in diesem Jahr das Gedicht übertünchen und diese Bilderstürmerei durch ein Gedicht Barbara Köhlers kaschieren.
Peter Glaser zitiert in diesem Zusammenhang Nora-Eugenie Gomringer und erfand die zutreffende Bezeichnung »Text-Taliban« (Facebook-Link):
Unfaßbar, daß eine Universitätsleitung einem solchen adoleszent besserwisserischen Treiben nachgibt, das eine an den Haaren herbeigezogene, mit Gewalt auf das Thema sexuelle Belästigung hingebogene Interpretation dieses Gedichts von Eugen Gomringer durchdrücken will.
Ich hätte da einen Vorschlag: Die Universitätsleitung könnte die Wand an die INSM verpachten:
Die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) hat mal wieder ein Projekt zum Mitmachen. Auf ihrer Website kann man jetzt sein Selfie hochladen, sein »Gesicht zeigen - Steuern senken!« Das auf den Server abgelegte Foto wird dann mit dem Schriftzug »I love Steuern senken« veredelt. »Nur eine Minute« und schon bist auch du dabei! Höhepunkt des Aktes: Alle Bilder werden zu einer großen Fotowand vereinigt. »Steuern senken – Wir sind dafür« wird dann wohl in großen Lettern über der Gesichtergalerie prangen. (Von Roberto de Lapuente 24.01.2018)
Das wäre moderner und vor allem: irgendwie digital!
Fuck me running!
Update Peter Glaser:
Anläßlich der Neubemalung der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule mit einem Gedicht der Lyrikerin Helene Fischer gibt es eine Sonderaufführung des Erfolgsfilms "Fack ju Gomringa".
Updates:
- It’s Hermeneutik, Baby! Avenidas oder die Geburt des Kunstwerks aus dem Geist der Jurisprudenz
AISTHESIS am 30. Januar 2018
- Die gewahrte Fassade
Die Konkrete Poesie war ein Protest gegen tradierte Formen der Kunst und der Versuch, an die Vorkriegsavantgarde anzuknüpfen. In diesem historischen Kontext steht Eugen Gomringers Gedicht »avenidas«, das Teil einer Debatte war und von der Außenwand der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin entfernt wurde.
Von Jonas Engelmann, Jungle.World 2018/06
gebattmer - 2018/01/24 19:29
Trackback URL:
https://gebattmer.twoday.net/stories/1022644155/modTrackback