Eric Hobsbawm (1917-2012)
Gegen den Vormarsch in neue Barbareien
Es war in den ersten Tagen eines europäischen Krieges, als der britische Historiker Eric Hobsbawm in Leipzig einen Preis für europäische Verständigung überreicht bekam...
... Es ehrt mich, dass Sie glauben, ich hätte durch meine Bücher der europäischen Verständigung Dienste geleistet, obwohl ich mich als Historiker nur beiläufig mit Europa beschäftigt habe. Es bildet nur einen Teil unseres fast unfassbaren Zeitalters, das ich versuche, als Historiker und als Mensch zu verstehen und verständlich zu machen. Allerdings gehören schon philologisch verstehen, verständlich machen und Verständigung zueinander: denn wie könnte man sich ohne sprachliche und intellektuelle Verständigung an Menschen jenseits der nationalen und kulturellen Grenzen wenden? Was eine Konversation zwischen uns ermöglicht, ist nicht so sehr, dass ich, obwohl Engländer, zu Ihnen in einem allerdings holprigen und aus der fernen Jugend herübergeretteten Deutsch spreche, sondern dass Sie wissen, worüber ich spreche, dass wir uns alle sozusagen im gleichen intellektuellen Raum befinden. Ohne diesen gemeinsamen Raum, ohne die anerkannten Regeln eines gemeinsamen Diskurses, ohne den Teil unserer Identität, der allen Menschen gemeinsam ist, sprechen wir aneinander vorbei. Wie kann man sich mit anderen, ob in Europa oder sonstwo, überhaupt verständigen, wenn man sagt: «Meinem Wesen nach bin ich Kurde oder Serbe oder Schwarzer oder Frau oder Mohammedaner oder Schwuler oder Jude, und wenn ihr nicht meinesgleichen seid, so könnt ihr mich überhaupt nicht verstehen? Ihr wisst einfach nicht, was bei mir los ist. Meine Wahrheit ist nicht die eure.» In unserem Zeitalter der Suche nach einer ausschliesslichen Identität hört man diese Sprache leider zu oft, auch von Intellektuellen, die es besser wissen sollten. Zwischen nicht unmittelbaren Wahrheiten kann es weder Verstehen noch Verständigung geben, sondern bestenfalls nur die gegenseitige Abgrenzung. Und das genügt da nicht.
Ganz besonders nicht, wenn wir eine solche Sprache von den Ideologen und Politikern des Nationalismus hören. Da aber der Nationalismus sich und seine politischen Ziele immer durch Berufung auf die gemeinsame Vergangenheit des betreffenden Volkes legitimiert, sollte er notwendigerweise auf den Widerstand oder jedenfalls die Skepsis der Fachhistoriker stossen. Denn was die Ideologen, die Hetzer und auch die Töter, von der Vergangenheit wissen, kommt letzten Endes von denen, die sie erforscht haben: von Historikern. Ob wir es wollen oder nicht, auf unseren Feldern wachsen die Pflanzen, aus denen nicht nur das Rauschgift des Volkes, sondern auch Sprengstoff hergestellt werden kann...
Dankesrede anlässlich der Verleihung des «Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung» vom 26. März 1999 (Quelle: WOZ)

Foto: Creative Commons, Quelle: Critical Legal Thinking
Terry Eagleton reviews How to Change the World: Marx and Marxism 1840-2011 by Eric Hobsbawm
Gefährliche Zeiten - Wie kaum ein Zweiter hat der britische Historiker Eric Hobsbawm Entwicklung und Krisenanfälligkeit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft beschrieben. Von Jakob Tanner (in der WOZ)
Die 2008 durch den Zusammenbruch der Lehman Bank ausgelöste Finanzkrise überraschte Hobsbawm wenig. In einem Interview mit dem Stern sagte er dazu, die Banker haben sich „absolut systemimmanent verhalten. Profit. Gewinn. Maximales Wirtschaftswachstum. Die marktradikalen Theorien sind ja wunderbar - wenn man von der Wirklichkeit absieht. Man konstruiert sich ein System, nennt es Freiheit, und in der Theorie funktioniert es: Jedermann, jeder Mensch, jede Firma sucht für sich den Vorteil, den rational kalkulierbaren Vorteil, und der Markt, jenseits des menschlichen Urteils, regelt alles zum Guten. Eine primitive Ideologie.“
Die Krise als solche war für ihn voraussehbar. Marx hatte sie 150 Jahre zuvor vorausgesagt. Hobsbawm schrieb dazu über das Kommunistische Manifest: „Was 1848 einem unvoreingenommenen Leser als revolutionäre Rhetorik oder bestenfalls als plausible Prognose erscheinen mochte, kann heute als eine knappe Beschreibung des Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts gelesen werden.“
Geschichte aus Sicht der Unterdrückten - VON SANDRO ABBATE (critica)
Wovon man möglichst einen Begriff haben sollte
Es war in den ersten Tagen eines europäischen Krieges, als der britische Historiker Eric Hobsbawm in Leipzig einen Preis für europäische Verständigung überreicht bekam...
... Es ehrt mich, dass Sie glauben, ich hätte durch meine Bücher der europäischen Verständigung Dienste geleistet, obwohl ich mich als Historiker nur beiläufig mit Europa beschäftigt habe. Es bildet nur einen Teil unseres fast unfassbaren Zeitalters, das ich versuche, als Historiker und als Mensch zu verstehen und verständlich zu machen. Allerdings gehören schon philologisch verstehen, verständlich machen und Verständigung zueinander: denn wie könnte man sich ohne sprachliche und intellektuelle Verständigung an Menschen jenseits der nationalen und kulturellen Grenzen wenden? Was eine Konversation zwischen uns ermöglicht, ist nicht so sehr, dass ich, obwohl Engländer, zu Ihnen in einem allerdings holprigen und aus der fernen Jugend herübergeretteten Deutsch spreche, sondern dass Sie wissen, worüber ich spreche, dass wir uns alle sozusagen im gleichen intellektuellen Raum befinden. Ohne diesen gemeinsamen Raum, ohne die anerkannten Regeln eines gemeinsamen Diskurses, ohne den Teil unserer Identität, der allen Menschen gemeinsam ist, sprechen wir aneinander vorbei. Wie kann man sich mit anderen, ob in Europa oder sonstwo, überhaupt verständigen, wenn man sagt: «Meinem Wesen nach bin ich Kurde oder Serbe oder Schwarzer oder Frau oder Mohammedaner oder Schwuler oder Jude, und wenn ihr nicht meinesgleichen seid, so könnt ihr mich überhaupt nicht verstehen? Ihr wisst einfach nicht, was bei mir los ist. Meine Wahrheit ist nicht die eure.» In unserem Zeitalter der Suche nach einer ausschliesslichen Identität hört man diese Sprache leider zu oft, auch von Intellektuellen, die es besser wissen sollten. Zwischen nicht unmittelbaren Wahrheiten kann es weder Verstehen noch Verständigung geben, sondern bestenfalls nur die gegenseitige Abgrenzung. Und das genügt da nicht.
Ganz besonders nicht, wenn wir eine solche Sprache von den Ideologen und Politikern des Nationalismus hören. Da aber der Nationalismus sich und seine politischen Ziele immer durch Berufung auf die gemeinsame Vergangenheit des betreffenden Volkes legitimiert, sollte er notwendigerweise auf den Widerstand oder jedenfalls die Skepsis der Fachhistoriker stossen. Denn was die Ideologen, die Hetzer und auch die Töter, von der Vergangenheit wissen, kommt letzten Endes von denen, die sie erforscht haben: von Historikern. Ob wir es wollen oder nicht, auf unseren Feldern wachsen die Pflanzen, aus denen nicht nur das Rauschgift des Volkes, sondern auch Sprengstoff hergestellt werden kann...
Dankesrede anlässlich der Verleihung des «Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung» vom 26. März 1999 (Quelle: WOZ)

Foto: Creative Commons, Quelle: Critical Legal Thinking
Terry Eagleton reviews How to Change the World: Marx and Marxism 1840-2011 by Eric Hobsbawm
Gefährliche Zeiten - Wie kaum ein Zweiter hat der britische Historiker Eric Hobsbawm Entwicklung und Krisenanfälligkeit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft beschrieben. Von Jakob Tanner (in der WOZ)
Die 2008 durch den Zusammenbruch der Lehman Bank ausgelöste Finanzkrise überraschte Hobsbawm wenig. In einem Interview mit dem Stern sagte er dazu, die Banker haben sich „absolut systemimmanent verhalten. Profit. Gewinn. Maximales Wirtschaftswachstum. Die marktradikalen Theorien sind ja wunderbar - wenn man von der Wirklichkeit absieht. Man konstruiert sich ein System, nennt es Freiheit, und in der Theorie funktioniert es: Jedermann, jeder Mensch, jede Firma sucht für sich den Vorteil, den rational kalkulierbaren Vorteil, und der Markt, jenseits des menschlichen Urteils, regelt alles zum Guten. Eine primitive Ideologie.“
Die Krise als solche war für ihn voraussehbar. Marx hatte sie 150 Jahre zuvor vorausgesagt. Hobsbawm schrieb dazu über das Kommunistische Manifest: „Was 1848 einem unvoreingenommenen Leser als revolutionäre Rhetorik oder bestenfalls als plausible Prognose erscheinen mochte, kann heute als eine knappe Beschreibung des Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts gelesen werden.“
Geschichte aus Sicht der Unterdrückten - VON SANDRO ABBATE (critica)
Wovon man möglichst einen Begriff haben sollte
gebattmer - 2012/10/08 17:57
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