Archäologie (CCXXXIV): Die übermächtige Ordnung der Dinge als ihre eigene Ideologie
- ... Daß Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse
heute eines seien und man deshalb die Gesellschaft
umstandslos von den Produktivkräften her konstruieren
könne, ist die aktuelle Gestalt gesellschaftlich notwendigen
Scheins. Gesellschaftlich notwendig ist er,
weil tatsächlich früher voneinander getrennte Momente
des gesellschaftlichen Prozesses, die lebenden
Menschen inbegriffen, auf eine Art Generalnenner gebracht
werden. Materielle Produktion, Verteilung,
Konsum werden gemeinsam verwaltet. Ihre Grenzen,
die einmal innerhalb des Gesamtprozesses dessen aufeinander
bezogene Sphären doch auch voneinander
schieden, und dadurch das qualitativ Verschiedene
achteten, verfließen. Alles ist Eins. Die Totalität der
Vermittlungsprozesse, in Wahrheit des Tauschprinzips,
produziert zweite trügerische Unmittelbarkeit.
Sie erlaubt es, womöglich das Trennende und Antagonistische
wider den eigenen Augenschein zu vergessen oder aus dem Bewußtsein
zu verdrängen. Schein aber ist dies Bewußtsein von der Gesellschaft,
weil es zwar der technologischen und organisatorischen
Vereinheitlichung Rechnung trägt, davon jedoch absieht,
daß diese Vereinheitlichung nicht wahrhaft rational
ist, sondern blinder, irrationaler Gesetzmäßigkeit untergeordnet
bleibt. Kein gesellschaftliches Gesamtsubjekt
existiert. Der Schein wäre auf die Formel zu
bringen, daß alles gesellschaftlich Daseiende heute so
vollständig in sich vermittelt ist, daß eben das Moment
der Vermittlung durch seine Totalität verstellt
wird. Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sich
mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu
nennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit ist
der Hebel anzusetzen. Das meinten Horkheimer und
ich vor Jahrzehnten mit dem Begriff des technologischen
Schleiers. Die falsche Identität zwischen der
Einrichtung der Welt und ihren Bewohnern durch die
totale Expansion der Technik läuft auf die Bestätigung
der Produktionsverhältnisse hinaus, nach deren
Nutznießern man mittlerweile fast ebenso vergeblich
forscht, wie die Proletarier unsichtbar geworden sind.
Die Verselbständigung des Systems gegenüber allen,
auch den Verfügenden, hat einen Grenzwert erreicht.
Sie ist zu jener Fatalität geworden, die in der allgegenwärtigen,
nach Freuds Wort, frei flutenden Angst
ihren Ausdruck findet; frei flutend, weil sie an keine
Lebendigen, an Personen nicht und nicht an Klassen,
länger sich zu heften vermag. Verselbständigt aber
haben sich am Ende doch nur die unter den Produktionsverhältnissen
vergrabenen Beziehungen zwischen
Menschen. Deshalb bleibt die übermächtige Ordnung
der Dinge zugleich ihre eigene Ideologie, virtuell ohnmächtig.
So undurchdringlich der Bann, er ist nur
Bann. Soll Soziologie, anstatt bloß Agenturen und Interessen
willkommene Informationen zu liefern, etwas
von dem erfüllen, um dessentwillen sie einmal konzipiert
ward, so ist es an ihr, mit Mitteln, die nicht selber
dem universalen Fetischcharakter erliegen, das
Ihre, sei's noch so Bescheidene, beizutragen, daß der
Bann sich löse.
Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag
In der Kammermusikkammer finden Sie aktuell einen Überblick über verfügbare Tondokumente:
Theodor W. Adorno - Der Philosoph vor dem Mikrophon
Vgl. auch Archäologie (CCXXIII): Adorno - Rundfunkinterviews
gebattmer - 2012/11/21 19:29
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