Karl Kraus "Die Fackel" online!

Menschen und gar vor des Menschen Erzeuger. Wer
den Besitzstand erweitern will und wer ihn nur verteidigt
— beide leben im Besitzstand, stets unter und nie über
dem Besitzstand. Der eine fatiert ihn, der andere er-
klärt ihn. Wird uns nicht bange vor irgendetwas über
dem Besitzstand, wenn Menschenopfer unerhört geschaut,
gelitten wurden und hinter der Sprache des seelischen
Aufschwungs, im Abklang der berauschenden Musik,
zwischen irdischen und himmlischen Heerscharen, eines
fahlen Morgens das Bekenntnis durchbricht: »Was jetzt
zu geschehen hat, ist, daß der Reisende fortwährend die
Fühlhörner ausstreckt und die Kundschaft unaufhörlich
abgetastet wird«! Menschheit ist Kundschaft. Hinter
Fahnen und Flammen, hinter Helden und Helfern,
hinter allen Vaterländern ist ein Altar aufgerichtet, an
dem die fromme Wissenschaft die Hände ringt: Gott
schuf den Konsumenten! Aber Gott schuf den Konsu-
menten nicht, damit es ihm wohl ergehe auf Erden,
sondern zu einem Höheren: damit es dem Händler
wohl ergehe auf Erden, denn der Konsument ist
nackt erschaffen und wird erst, wenn er Kleider ver-
kauft, ein Händler. Die Notwendigkeit, zu essen, um
zu leben, kann philosophisch nicht bestritten werden,
wiewohl die Öffentlichkeit dieser Verrichtung von
einem unablegbaren Mangel an Schamgefühl zeugt.
Kultur ist die stillschweigende Verabredung, das Lebens-
mittel hinter dem Lebenszweck abtreten zu lassen.
Zivilisation ist die Unterwerfung des Lebenszwecks
unter das Lebensmittel. Diesem Ideal dient der Fort-
schritt und diesem Ideal liefert er seine Waffen. Der
Fortschritt lebt, um zu essen, und beweist zu Zeiten,
daß er sogar sterben kann, um zu essen. Er erträgt
Mühsal, damit es ihm wohl ergehe. Er wendet
Pathos an die Prämissen. Die äußerste Bejahung des
Fortschritts gebietet nun längst, daß das Bedürfnis
sich nach dem Angebot richte, daß wir essen, damit
der andere satt werde, und daß der Hausierer
noch unsern Gedanken unterbreche, wenn er uns
bietet, was wir gerade nicht brauchen. Der Fort-
schritt, unter dessen Füßen das Gras trauert und
der Wald zu Papier wird, aus dem die Blätter
wachsen, er hat den Lebenszweck den Lebensmitteln
subordiniert und uns zu Hilfsschrauben unserer Werk-
zeuge gemacht. Der Zahn der Zeit ist hohl; denn als
er gesund war, kam die Hand, die vom Plombieren
lebt. Wo alle Kraft angewandt wurde, das Leben
reibungslos zu machen, bleibt nichts übrig, was dieser
Schonung noch bedarf. In solcher Gegend kann die
Individualität leben, aber nicht mehr entstehen. Mit
ihren Nervenwünschen mag sie dort gastieren, wo in
Komfort und Fortkommen rings Automaten ohne
Gesicht und Gruß vorbei und vorwärtsschieben.
In dieser großen Zeit - Karl Kraus; Die Fackel: Heft 404, 5.12.1914
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Herausgeber: AAC - Austrian Academy Corpus
Titel: AAC-FACKEL
Untertitel: Online Version: "Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899-1936"
Reihentitel: AAC Digital Edition Nr. 1
URL: http://www.aac.ac.at/fackel
Abrufdatum:
Eine Großtat ist anzuzeigen:
The Austrian Academy of Sciences is pleased to present:
The AAC digital edition of the journal »Die Fackel«, edited by Karl Kraus from 1899 to 1936, offers free online access to the 37 volumes, 415 issues, 922 numbers, comprising more than 22.500 pages and 6 million wordforms.
The AAC-FACKEL contains a fully searchable database of the entire journal with various indexes, search tools and navigation aids in an innovative and highly functional graphic design interface, in which all pages of the original are available as digital texts and as facsimile images.
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Nachtrag:
In Konkret 03 2007 :
Gerhard Henschel über Eva Menasses Kraus-Anpinkelei:
Anläßlich der Eröffnung des neuen Internetzugangs zur "Fackel" hat die sonst allgemein als zurechnungsfähig bekannte Eva Menasse ein neckisches Feuilleton veröffentlicht und den "Zeit"-Herausgeber Michael Naumann als deren einzigen bekennenden Leser bespöttelt. In den von Eva Menasse gezählten 22.500 Seiten der "Fackel", die Kraus von 1899 bis 1936 herausgegeben hat, ist sie als Leserin nicht heimisch geworden: "Man sucht hustend das Weite", schreibt sie. Den zeitgenössischen Lesern möge die "Fackel", Heft für Heft, zwar "durchaus verdaulich" erschienen sein; die Gesamtausgabe türme sich jedoch zu einem unzugänglichen "Phallussymbol" auf.
Der Einwand ist erstaunlich närrisch. Wenn das Faksimile der "Fackel" ein abschreckendes "Phallussymbol" wäre, könnte Eva Menasse, als lesefaule Banausin, auch die Weimarer Ausgabe der Werke Goethes mit ein paar flapsigen Bemerkungen abtun und überhaupt jede umfangreiche, das Zeitbudget einer Rezensentin über Gebühr strapazierende literarische Hinterlassenschaft.
In der "Fackel" kennt Eva Menasse sich nach eigener Aussage nur flüchtig aus, aber was von deren Herausgeber zu halten sei, glaubt sie bei ihrer kursorischen Lektüre so scharf erfaßt zu haben, daß sie annimmt, mit Schimpfnamen um sich werfen zu dürfen. Karl Kraus, der "Wiener Wahnsinnige", sei ein "Spinner" gewesen: "Jeder Publizist, der sich heute so unbeugsam, so eigensinnig, so hemmungslos kriegerisch verhielte wie Kraus, würde als Spinner betrachtet. Zu seiner Zeit war Karl Kraus ein Spinner."
Das ist nicht ganz unrichtig. Karl Kraus war so verrückt, als einziger deutschsprachiger Publizist im Ersten Weltkrieg gegen den Imperialismus der Mittelmächte und den Blutdurst der deutschen Kriegsdichter aufzubegehren und hernach die österreichische Öffentlichkeit aus ihrem faulen Frieden mit dem Gossenpressezaren Imre Békessy aufzuscheuchen, der es bis dahin gewohnt war, daß ihm willfährige Konjunkturritter des Geistes wie Thomas Mann und Alfred Kerr bedenkenlos die Eier kraulten und sich von ihm dafür bezahlen ließen: All das kann man in der "Fackel" nachlesen.
So unbeugsam, so eigensinnig und so kriegerisch wie Kraus könnten sich heute wie damals nur "Spinner" verhalten, schreibt Eva Menasse, aber da irrt sie sich. Es mag sein, daß sie als Mitarbeiterin der "FAZ" daran gewöhnt ist, sich anders zu verhalten als Karl Kraus, also beugsam, kooperativ und friedlich. "Kraussche Gedanken kann sich keiner mehr leisten", erklärt sie, doch damit hat sie nur ihr eigenes Gewerbe charakterisiert. Daß sie es sich nicht leisten könnte, in der "FAZ" Karl Kraus beizupflichten, glaubt man ihr gern. Doch es gibt es durchaus noch ein paar Menschen, die sich Kraussche Gedanken leisten können ohne Angst davor, eins auf den Deckel zu bekommen, von einem Herausgeber, der sich seine engen und höchst einträglichen Kontakte zur alleruntersten und schmierigsten Etage der Gossenjournaille von seinen freien Mitarbeitern nicht madig machen lassen will.
Journalisten, die hier mitspielen, um ihrerseits irgendwie über die Runden zu kommen, sollten so höflich und bescheiden sein, anderswo auszuspucken als gerade am Grab von Karl Kraus.
...
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Update:
Karl Kraus - Die letzten Tage der Menschheit (Helmut Qualtinger) bei Zero G Sound
gebattmer - 2007/02/22 23:03
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