Archäologie CVXVVXXXXIV: Jesus Christus Erlöser
Aus aktuellem Anlass (wg. Matussek und anderer Hurra-Katholiken) eine Geschichte aus dem Jahre 1971:
... Fast zehn Jahre lang war der Künstler, der ab 1952 vor allem durch seine Rezitationen von Rimbaud und François Villon berühmt geworden war, nicht mehr auf der Bühne aufgetreten. Der Jesus-Christus-Abend, der der Auftakt einer weltweiten Tournee sein sollte, wird zum Debakel. Linke Zuschauer provozieren den Schauspieler, Kinski beleidigt zurück, mehrmals verlässt er die Bühne, bevor er dann, nach Mitternacht, vor hundert Verbliebenen seinen Text glücklich zu Ende spricht...
Von seinem "wichtigsten Vortrag" (Kinski), der sich letztlich sechs Stunden hinzog, gibt es lediglich 134 Minuten Filmmaterial, die Peter Geyer hervorragend zu einem 84-Minuten-Film zusammengeschnitten hat. Ein großartiges Zeitdokument und seltsamerweise der einzige Bühnenauftritt von Kinski, der filmisch dokumentiert ist. Im Blümchenhemd mit schulterlangen Haaren präsentiert Kinski dabei nicht so sehr (oder erst am Ende) den sanften Versöhner, sondern den aufrührerischen, antiinstitutionellen Jesus, der sich mit denen verbündet, die als "Randgruppen" (Marcuse) oder "Patchwork der Minderheiten" (Lyotard) bei 68er-Theoretikern wie Marcuse und Lyotard die Rolle des Proletariats auf dem Weg zur Weltrevolution übernommen hatten. Also: Junkies, Kriegsdienstverweigerer, weinende Mütter in Vietnam, Huren, Trinker, Kriminelle. Deshalb ist es umso befremdlicher, dass er immer wieder mit beleidigenden Zwischenrufen - "du hast doch selbst nie gearbeitet", "der onaniert doch ständig in die Luft", "der hat doch schon seine Million" - unterbrochen wird oder dass Zuschauer auf die Bühne wollen, um zu "diskutieren". Die Zwischenrufe führen dazu, dass er seinen Vortrag gegen die Zuschauer richtet, die er mit biblischen Zitaten wie weiland der Erlöser als Schweine oder Säue, beschimpft; dass er sich immer besser in seine Rolle hineinsteigert.
"Jesus Christus Erlöser" dokumentiert nicht nur einen großartigen Auftritt Kinskis, sondern auch , die - nachdem Kinski zum x-ten Mal die Bühne verlassen hatte - im vielstimmigen Chor: "Kinski ist ein Faschist" skandieren.
DETLEF KUHLBRODT in der taz vom 12.08.2008
Schade, die Dummheit und selbstzufriedene Kulturfeindschaft eines Teils der 68er - insbesondere ihres maoistischen Teils - bei dieser Gelegenheit demonstriert zu haben, war der damalige oder etwasspätere Maoist Matussek wohl etwas zu jung und 1971 noch auf dem Aloisiuskolleg (wo im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen in den 60er Jahren insgesamt 23 Personen von Aussagen der Betroffenen belastet wurden, darunter 18 Ordensmitglieder und 5 Mitarbeiter. Ich erwähne das nur, weil Matussek weiß, dass lediglich 0,1 Prozent der Missbrauchstäter aus den Reihen der katholischen Kirche stammen...). - Hätte alles so schön gepasst!
Update 25.07.
Vor dem Hintergrund erster seriöser Analysen des 1500-Seiten-Manifests des Anders Behring Breivik (wie heute etwa von Hans Leyendecker und Nicolas Richter in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel "Psycho") liest sich die Geschichte noch einmal ganz anders:
Auch der aufrührerische, antiinstitutionelle Jesus, der sich mit denen verbündet, die als "Randgruppen" (Marcuse) oder "Patchwork der Minderheiten" (Lyotard) ... die Rolle des Proletariats auf dem Weg zur Weltrevolution übernommen hatten, erweist sich als nicht zu retten, als "totes Pferd", wenn die von einem haluzinierten herrschenden multikulturalistischen Marxismus sich zu Randgruppen oder Patchwork der Minderheiten wahnhaft (selbst) Marginalisierten sich als Erlöser gerieren, die nun diesen aufrührerischen Christus für sich reklamieren und - jetzt leider zurück zu Kinski - mehr als die Peistsche herausholen.
Es ist wohl an der Zeit festzustellen, dass nur die radikale Kritik jeder Religion (weiter) zu denken lohnt. Dass hätte man 1971 - zu hoffnungsfrohen Zeiten der Theologie der Befreiung - auch wissen können, aber nicht wissen müssen ...
Heute muss man wissen, dass die wohlfeile Krtitk des Gutmenschentums der evangelischen Kirchentage der Matussek, Broder etc. ebenso vordergründig richtig wie widerlich und falsch ist, weil sie alle in der selben Denkschleife gefangen sind:
... erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
Es gibt keine Erlösung: there's no Heaven, above us only sky ...
Intros: Religionskritik
Veranstaltung mit Erik Kuhlenkamp vom 14. Juni 2011 und vierter Teil der Intros-Reihe aus dem Hamburger Centro Sociale (Podcast-Version via Audioarchiv kritischer Theorie & Praxis)
autismuskritik: assoziation: zum massaker in norwegen
Im Übrigen: Der Moslem war's!
... Fast zehn Jahre lang war der Künstler, der ab 1952 vor allem durch seine Rezitationen von Rimbaud und François Villon berühmt geworden war, nicht mehr auf der Bühne aufgetreten. Der Jesus-Christus-Abend, der der Auftakt einer weltweiten Tournee sein sollte, wird zum Debakel. Linke Zuschauer provozieren den Schauspieler, Kinski beleidigt zurück, mehrmals verlässt er die Bühne, bevor er dann, nach Mitternacht, vor hundert Verbliebenen seinen Text glücklich zu Ende spricht...
Von seinem "wichtigsten Vortrag" (Kinski), der sich letztlich sechs Stunden hinzog, gibt es lediglich 134 Minuten Filmmaterial, die Peter Geyer hervorragend zu einem 84-Minuten-Film zusammengeschnitten hat. Ein großartiges Zeitdokument und seltsamerweise der einzige Bühnenauftritt von Kinski, der filmisch dokumentiert ist. Im Blümchenhemd mit schulterlangen Haaren präsentiert Kinski dabei nicht so sehr (oder erst am Ende) den sanften Versöhner, sondern den aufrührerischen, antiinstitutionellen Jesus, der sich mit denen verbündet, die als "Randgruppen" (Marcuse) oder "Patchwork der Minderheiten" (Lyotard) bei 68er-Theoretikern wie Marcuse und Lyotard die Rolle des Proletariats auf dem Weg zur Weltrevolution übernommen hatten. Also: Junkies, Kriegsdienstverweigerer, weinende Mütter in Vietnam, Huren, Trinker, Kriminelle. Deshalb ist es umso befremdlicher, dass er immer wieder mit beleidigenden Zwischenrufen - "du hast doch selbst nie gearbeitet", "der onaniert doch ständig in die Luft", "der hat doch schon seine Million" - unterbrochen wird oder dass Zuschauer auf die Bühne wollen, um zu "diskutieren". Die Zwischenrufe führen dazu, dass er seinen Vortrag gegen die Zuschauer richtet, die er mit biblischen Zitaten wie weiland der Erlöser als Schweine oder Säue, beschimpft; dass er sich immer besser in seine Rolle hineinsteigert.
"Jesus Christus Erlöser" dokumentiert nicht nur einen großartigen Auftritt Kinskis, sondern auch , die - nachdem Kinski zum x-ten Mal die Bühne verlassen hatte - im vielstimmigen Chor: "Kinski ist ein Faschist" skandieren.
DETLEF KUHLBRODT in der taz vom 12.08.2008
Schade, die Dummheit und selbstzufriedene Kulturfeindschaft eines Teils der 68er - insbesondere ihres maoistischen Teils - bei dieser Gelegenheit demonstriert zu haben, war der damalige oder etwasspätere Maoist Matussek wohl etwas zu jung und 1971 noch auf dem Aloisiuskolleg (wo im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen in den 60er Jahren insgesamt 23 Personen von Aussagen der Betroffenen belastet wurden, darunter 18 Ordensmitglieder und 5 Mitarbeiter. Ich erwähne das nur, weil Matussek weiß, dass lediglich 0,1 Prozent der Missbrauchstäter aus den Reihen der katholischen Kirche stammen...). - Hätte alles so schön gepasst!
Update 25.07.
Vor dem Hintergrund erster seriöser Analysen des 1500-Seiten-Manifests des Anders Behring Breivik (wie heute etwa von Hans Leyendecker und Nicolas Richter in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel "Psycho") liest sich die Geschichte noch einmal ganz anders:
Auch der aufrührerische, antiinstitutionelle Jesus, der sich mit denen verbündet, die als "Randgruppen" (Marcuse) oder "Patchwork der Minderheiten" (Lyotard) ... die Rolle des Proletariats auf dem Weg zur Weltrevolution übernommen hatten, erweist sich als nicht zu retten, als "totes Pferd", wenn die von einem haluzinierten herrschenden multikulturalistischen Marxismus sich zu Randgruppen oder Patchwork der Minderheiten wahnhaft (selbst) Marginalisierten sich als Erlöser gerieren, die nun diesen aufrührerischen Christus für sich reklamieren und - jetzt leider zurück zu Kinski - mehr als die Peistsche herausholen.
Es ist wohl an der Zeit festzustellen, dass nur die radikale Kritik jeder Religion (weiter) zu denken lohnt. Dass hätte man 1971 - zu hoffnungsfrohen Zeiten der Theologie der Befreiung - auch wissen können, aber nicht wissen müssen ...
Heute muss man wissen, dass die wohlfeile Krtitk des Gutmenschentums der evangelischen Kirchentage der Matussek, Broder etc. ebenso vordergründig richtig wie widerlich und falsch ist, weil sie alle in der selben Denkschleife gefangen sind:
... erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
Es gibt keine Erlösung: there's no Heaven, above us only sky ...
Intros: Religionskritik
Veranstaltung mit Erik Kuhlenkamp vom 14. Juni 2011 und vierter Teil der Intros-Reihe aus dem Hamburger Centro Sociale (Podcast-Version via Audioarchiv kritischer Theorie & Praxis)
autismuskritik: assoziation: zum massaker in norwegen
Im Übrigen: Der Moslem war's!
gebattmer - 2011/07/22 19:04
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