Scham heute - der allgegenwärtige Pannwitz-Blick
Till Bastian entwickelt in einem hoch interessanten Artikel im heutigen Freitag die These:
Scham ist ... durchaus ein Problem der Moderne, und der "Pannwitz-Blick" ist gerade heute allgegenwärtig. Dieser die Grundfesten der Existenz bedrohende Affekt ist kein Aschenbrödel, sondern eher ein allgegenwärtiges Phantom: in immer neuer Gestalt sorgt er dafür, dass sich hilflose und ohnmächtige Menschen im Kern getroffen fühlen müssen, heute nicht weniger als vor tausend Jahren. Und manche Wunden der Scham heilen nie.
Die Ableitung der These kann den Leser schon mitnehmen:
Wie aber steht es heute um Beschämung und Scham? Viele glauben, wir lebten in "schamlosen Zeiten". Diese Ansicht hat zum Beispiel der Ethnologe Hans-Peter Duerr in seiner Kritik an Norbert Elias (Der Mythos vom Zivilisationsprozess) vertreten, und ein Blick ins Fernsehprogramm, etwa in den Big-Brother-Container, scheint ihm recht zu geben. Es ist offenkundig, dass in der modernen westlichen Gesellschaft die Sexualscham von der Statusscham fast völlig verdrängt worden ist. Noch für Freud war die Scham ein Damm gegen sexuell motivierte Schaulust. In einer Zeit indes, in der Jugendliche sich auf dem Schulhof via Handy Sex- und Gewaltdarstellungen betrachten können, leben wir offenkundig unter anderen Bedingungen als einst in der viktorianischen Ära. Natürlich hat es auch früher Statusscham gegeben, aber sie bezog sich auf den Ehrenkodex privilegierter Schichten, etwa der homerischen Helden. Heute ist die Statusscham demokratisiert und infolgedessen allgegenwärtig; sie heftet sich vor allem auf die Verfügbarkeit über Gebrauchsgüter und Verhaltensoptionen. Ein Freund wurde etwa von seiner pubertierenden Tochter erbost zur Rede gestellt, weil er während des Schulfestes telefoniert hatte: "Wie kannst du mich nur so blamieren! Mit so einem alten Handy!" Das Wort "peinlich" fällt nicht ohne Grund in der Jugendsprache äußerst häufig. Die Scham ist der Unfähigkeit geschuldet, Dockers-Schuhe und Diesel-Jeans zu tragen. Die Bedeutung der visuellen Sphäre ist deutlich: Man schämt sich jetzt wie einst für den Anblick, den man bietet - aber nicht nackt und bloß, sondern uncool und ohne Markenware.
Eine rituelle Beschämung findet aber auch statt in der weitgehenden öffentlichen Ächtung ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen, etwa der "Hartz-IV-Empfänger", von Menschen also, die ein ehemaliger Spitzenmanager ungestraft als "Wohlstandsmüll" hat bezeichnen können. Wohin es führen kann, wenn große, ohnehin benachteiligte Randgruppen der Gesellschaft durch provokante Äußerungen schamfreier Politiker verhöhnt und beleidigt, also öffentlich beschämt werden, wie jugendliche Immigranten durch den damaligen Innenminister und heutigen Staatspräsidenten Sarkozy, ließ sich im Herbst 2005 in den Vorstädten unseres Nachbarlandes beobachten wie in einem sozialpsychologischen Experiment.
Interessant ist, wie Bastian die Verbindung zum Pannwitz-Blick herstellt ( einem Phänomen, das ich neulich in anderem Zusammenhang erwähnte Der entleerte Blick hinter der Kamera), den Primo Levi in seinen Erinnerungen an Auschwitz so eindringlich beschrieben hat. Dieser Blick des IG-Farben-Direktors Pannwitz richtet sich im Nebenlager Monowitz auf Häftling 174 517, auf Levi: "Mir ist, als müsste ich überall, wo ich hinkomme, Schmutzflecken hinterlassen", so erlebt sich der hilflose Auschwitz-Häftling unter dem Blick des übermächtigen Ariers, der - so Levi - "fürchterlich hinter einem wuchtigen Schreibtisch" thront *.
Die Spiegelung im Auge des Anderen
Das Gemeinschaftstier Mensch ist nun einmal dazu verurteilt, sich in den Augen der anderen zu spiegeln, auch dann, wenn diese Augen unbarmherzig sind. Wobei es für die tiefste Beschämung schon genügt, wenn wir sie für unbarmherzig halten, weil wir den abschätzigen Betrachter verinnerlicht haben. Bernard Williams hat auch dieses Thema erörtert: "Auch wenn sich die Scham und ihre Motivation in der einen oder anderen Weise immer auf den Blick des anderen beziehen, ist es wichtig, festzuhalten, dass für viele ihrer Operationen der imaginierte Blick eines imaginierten anderen ausreicht".
Die Spiegelung im Auge der anderen, ob imaginiert oder nicht, erhält jedoch eine neue Qualität durch die technische Reproduzierbarkeit der Abbildung und durch die damit mögliche zigtausendfache, auch weltweite Verbreitung ...
Den Artikel unbedingt lesen!
* Primo Levi - Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz, 1947:
Wie Pannwitz mit dem Schreiben fertig ist, hebt er die Augen und sieht mich an. Zwischen Menschen hat es einen solchen Blick nie gegeben. … der wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnen … Der jene blauen Augen und gepflegten Hände beherrschende Verstand sprach: 'Dieses Dingsda vor mir, gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist.
Ray Davies - X-Ray:
Perhaps everyone exists half in somebody else’s imagination. No one is totally human. We are all facets of someone else’s internalization. Visions of what they want us to be.
What if ....
Update 2010:
Georg Seeßlen über die Gründe für die neue soziale Praxis des Fremdschämens:
1. Kann sich in einer medienpopulistischen Gesellschaft niemand mehr für sich selber schämen. Schamlosigkeit ist vielmehr die Voraussetzung für jede Karriere. Wer Erfolg haben will, und wollen wir das nicht alle, darf keinesfalls verschämt daherkommen. Haben Sie vielleicht schon einmal einen Finanzberater, einen Fernsehmoderator oder einen Wirtschaftsminister gesehen, der sich schämt? Das lassen die von anderen machen. Denn damit, dass man sich seiner selbst nicht mehr schämen darf, soll und kann, ist ein gewisses Scham-Bedürfnis des Menschen ja nicht vollständig aus der Welt geschafft. Die Lösung: Fremdscham.
2. Kann man umgekehrt in einer medienpopulistischen Gesellschaft auch niemanden einfach so verachten, bloß weil er oder sie brunzdumm, obszön, peinlich, aufdringlich oder sonstwie unerträglich ist. Das wäre nämlich arrogant und elitär. Die Lösung auch hier: Zeigt sich der Mitmensch als mehr oder weniger gewöhnliches Arschloch, dann verachten wir ihn nicht, wir schämen uns für ihn. Und zwar am besten so, dass er oder sie persönlich gar nichts davon merken. Eben das nennt man Fremdscham.
Scham ist ... durchaus ein Problem der Moderne, und der "Pannwitz-Blick" ist gerade heute allgegenwärtig. Dieser die Grundfesten der Existenz bedrohende Affekt ist kein Aschenbrödel, sondern eher ein allgegenwärtiges Phantom: in immer neuer Gestalt sorgt er dafür, dass sich hilflose und ohnmächtige Menschen im Kern getroffen fühlen müssen, heute nicht weniger als vor tausend Jahren. Und manche Wunden der Scham heilen nie.
Die Ableitung der These kann den Leser schon mitnehmen:


Interessant ist, wie Bastian die Verbindung zum Pannwitz-Blick herstellt ( einem Phänomen, das ich neulich in anderem Zusammenhang erwähnte Der entleerte Blick hinter der Kamera), den Primo Levi in seinen Erinnerungen an Auschwitz so eindringlich beschrieben hat. Dieser Blick des IG-Farben-Direktors Pannwitz richtet sich im Nebenlager Monowitz auf Häftling 174 517, auf Levi: "Mir ist, als müsste ich überall, wo ich hinkomme, Schmutzflecken hinterlassen", so erlebt sich der hilflose Auschwitz-Häftling unter dem Blick des übermächtigen Ariers, der - so Levi - "fürchterlich hinter einem wuchtigen Schreibtisch" thront *.
Die Spiegelung im Auge des Anderen
Das Gemeinschaftstier Mensch ist nun einmal dazu verurteilt, sich in den Augen der anderen zu spiegeln, auch dann, wenn diese Augen unbarmherzig sind. Wobei es für die tiefste Beschämung schon genügt, wenn wir sie für unbarmherzig halten, weil wir den abschätzigen Betrachter verinnerlicht haben. Bernard Williams hat auch dieses Thema erörtert: "Auch wenn sich die Scham und ihre Motivation in der einen oder anderen Weise immer auf den Blick des anderen beziehen, ist es wichtig, festzuhalten, dass für viele ihrer Operationen der imaginierte Blick eines imaginierten anderen ausreicht".

Den Artikel unbedingt lesen!
* Primo Levi - Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz, 1947:
Wie Pannwitz mit dem Schreiben fertig ist, hebt er die Augen und sieht mich an. Zwischen Menschen hat es einen solchen Blick nie gegeben. … der wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnen … Der jene blauen Augen und gepflegten Hände beherrschende Verstand sprach: 'Dieses Dingsda vor mir, gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist.
Ray Davies - X-Ray:
Perhaps everyone exists half in somebody else’s imagination. No one is totally human. We are all facets of someone else’s internalization. Visions of what they want us to be.
What if ....
Update 2010:
Georg Seeßlen über die Gründe für die neue soziale Praxis des Fremdschämens:
1. Kann sich in einer medienpopulistischen Gesellschaft niemand mehr für sich selber schämen. Schamlosigkeit ist vielmehr die Voraussetzung für jede Karriere. Wer Erfolg haben will, und wollen wir das nicht alle, darf keinesfalls verschämt daherkommen. Haben Sie vielleicht schon einmal einen Finanzberater, einen Fernsehmoderator oder einen Wirtschaftsminister gesehen, der sich schämt? Das lassen die von anderen machen. Denn damit, dass man sich seiner selbst nicht mehr schämen darf, soll und kann, ist ein gewisses Scham-Bedürfnis des Menschen ja nicht vollständig aus der Welt geschafft. Die Lösung: Fremdscham.
2. Kann man umgekehrt in einer medienpopulistischen Gesellschaft auch niemanden einfach so verachten, bloß weil er oder sie brunzdumm, obszön, peinlich, aufdringlich oder sonstwie unerträglich ist. Das wäre nämlich arrogant und elitär. Die Lösung auch hier: Zeigt sich der Mitmensch als mehr oder weniger gewöhnliches Arschloch, dann verachten wir ihn nicht, wir schämen uns für ihn. Und zwar am besten so, dass er oder sie persönlich gar nichts davon merken. Eben das nennt man Fremdscham.
gebattmer - 2007/06/14 21:21
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