Warum "Jugendgewalt" eine Ideologie ist ...
1. Über die Gleichgültigkeit gegenüber
den Ursachen von und den Zwecken der Gewalt
a. "Gewaltbereitschaft" - eine Fiktion
Wer Gewalt unterbinden will, die von Kindern und Jugendlichen
ausgeht, wer sich der Gewaltprävention, Gewaltintervention oder
Gewalt-"postvention" verschrieben hat, der wird mit der
Frage konfrontiert, woher "die Gewaltbereitschaft" von
Kindern und Jugendlichen rührt. Und wer dieser Frage nachgeht,
der wird mit einer Fülle von disparaten Erklärungen
konfrontiert, die sich z.T. gar widersprechen: da ist vom
Aggressionstrieb die Rede, von einem sozialdarwinistischen
Verhaltensmuster oder von einer Frustrationsverschiebung; da wird
die Gewaltbereitschaft auf Imitation zurückgeführt, auf widrige
soziale Umstände oder auf Manipulation. So sehr sich diese Erklärungen
auch wechselseitig durchkreuzen oder ausschließen, ihnen ist
eines gemeinsam: Immer werden die gewalttätig gewordenen Kinder
und Jugendlichen als Produkt innerer oder äußerer Verhältnisse
vorgestellt; immer wird behauptet, sie würden getrieben, seien
determiniert oder durch diese Verhältnisse auf Verhaltensmuster
festgelegt - so als würde sie irgendetwas zu Gewalttaten drängen,
als würde sich inhalts- und grundloses Gewaltbedürfnis bei
ihnen Bahn brechen und sich "unschuldige" Opfer suchen.
(2)
Diese Konstruktion behauptet einen Sachverhalt, den es nicht
gibt. Nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kinder und
Jugendlichen ist Gewalt nie für sich der Zweck, sondern immer
ein Mittel, das sie mit ihren Gründen einsetzen und das sie zur
Durchsetzung bestimmter - zwangsläufig roher - Anliegen benutzen.
Wenn Erwachsene Kinder mit Schlägen bestrafen, wenn sie eine
Bank überfallen, wenn Männer Frauen Gewalt antun, wenn
Polizisten Demonstranten mit Schlagstöcken auseinandertreiben
und Ausländer abschieben, oder wenn Soldaten zum Töten in den
Krieg geschickt werden - immer gilt es als selbstverständlich,
dass Gewalt für gebilligte oder nicht gebilligte Zwecke
eingesetzt wird. Und immer ist der Zusammenhang von Ursache,
Zweck und Mittel eindeutig erkennbar: Wenn Eltern etwa ihre
Kinder mit Prügel für Ungehorsam bestrafen, dann war der
Ungehorsam die Ursache der Strafaktion, die Bestrafung für
Ungehorsam der Zweck und die Tracht Prügel das dafür von Eltern
für passend erachtete Mittel. Wenn eine Bank überfallen wird,
dann ist Geldarmut die Ursache, Aneignung von fremdem Geld der
Zweck und die Drohung mit bzw. der Einsatz Gewalt das eingesetzte
Mittel. Und wenn die USA den Irak militärisch überfallen, dann
weiß jedermann ebenfalls den Krieg als Mittel für den Zweck der
Absetzung von Saddam Hussein anzugeben; und auch die Ursache des
Krieges - die irakische Führung hat einfach nicht freiwillig
Land, Leute und Öl an die USA ausgeliefert - ist inzwischen kein
Geheimnis mehr.

Und das soll bei gewalttätigen Kindern und Jugendlichen
anders sein? Kinder sollen für ihre Rohheiten weder einen Grund
haben, noch einen Zweck wissen? Zwar mag es manchmal sein, dass
Anliegen bzw. Zweck irgendeines gewalttätigen Übergriffs nicht
unmittelbar erkennbar sind. Wenn etwa ein Jugendlicher "aus
heiterem Himmel" einen anderen anrempelt und die bewusst
provozierte Gegenreaktion zum willkommenen Anlass nimmt, den
Gerempelten zu verprügeln, dann wird nicht selten die "Sinn-
und Grundlosigkeit" daran festgemacht, dass der andere ihm
doch nichts getan hat. Dabei ist dieser Zusammenschluss gänzlich
unzulässig. Als ob Gewalt immer nur die "gerechte Strafe"
oder zumindest die "verständliche Gegenreaktion" auf
irgendeine Schädigung ist, die der Schläger zuvor erlitten hat.
Was hat denn die Frau dem Manne "getan", der sie
vergewaltigt? Natürlich nichts. Sie ihm nur nicht zu Willen. Und
- um gleich drei Etagen höher zu springen - was hat der Saddam
Hussein den USA "angetan"? Ebenfalls nichts, abgesehen
davon, dass er nicht freiwillig den Irak unter USA-Aufsicht
gestellt hat. Eine Unterlassung kann also ebenso der Grund für
den Einsatz von Gewaltmitteln sein; sogar eine solche
Unterlassung, die deswegen freiwillig gar nicht vollzogen werden
kann, weil sie gar nicht als Anspruch formuliert worden ist. So
verhält es sich nämlich bei dem angerempelten Jungen: Getan hat
der dem "Schlägertypen" wirklich nichts. Nur hat er es
unterlassen, dem Rohling per Unterwerfungsgesten mitzuteilen,
dass er ihn für den Größten, Coolsten und Stärksten hält. Er
hat es unterlassen, besser: er konnte gar nicht anders, als es zu
unterlassen, weil er gar nicht wusste, was da für ein Anspruch
auf ihn zukommt (und wahrscheinlich wusste dies sein Gegenüber
bis kurz vor dem Zusammentreffen selbst noch nicht). Das ist kein
Zufall, denn um ihn und seine Person ging es gar nicht. Er selbst
war für den anderen nur gleichgültiges Material für den Zweck,
für sich selbst und für andere per Einsatz seiner überlegen
Physis den Beweis anzutreten, dass es sich bei ihm einfach um
einen coolen Siegertypen handelt.
So gesehen geht es also bei gewalttätigen Kindern und
Jugendlichen nicht anders zu als in der gewaltträchtigen Welt
der Erwachsenen. Da wird mit Schlägen in der Schulklasse eine
Beleidigung gerächt, für neue "Machtverhältnisse"
auf dem Schulhof oder auf der Straße gesorgt; Skins sehen in
Ausländern und in "undeutschem Gesindel" eine Gefahr für
ihre deutsche Heimat, Gangs türkisch-stämmiger Jugendlicher
kehren denselben Spieß um und Hooligans erkämpfen
stellvertretend für ihre Fußballheimat Siege gegen fremde Fans.
b. Sprachdenkmal "Jugendgewalt"
Die Erfindung grund- und zweckloser Gewalt von Kindern und
Jugendlichen hat im Begriff "Jugendgewalt" ihr
Sprachdenkmal gefunden. Dieser Begriff will zwischen den Gründen
und Anliegen von Schülern, die vom Anerkennungswahn "angetrieben"
sind, von Skins, deren Rassismus gewalttätige Formen annimmt,
und von Hooligans, die ihren Lokalfaschismus im Namen ihres
Heimatvereins betreiben, nicht mehr unterscheiden. Alles ist eben
"Jugendgewalt" und interessiert die entsprechenden
Wissenschaftler bzw. Praktiker allein als Abweichung von dem, was
sich hierzulande für Kinder und Jugendliche gehört. Dieser
theoretische (Polizei-)Standpunkt entdeckt immer nur das gleiche:
Diese Kinder und Jugendlichen entsprechen nicht dem Idealbild von
- deutscher - Jugend, unterwerfen sich nicht den Normen für
Ordnung und Anstand und halten sich nicht ans Gesetz. Doch was
weiß man eigentlich über das Tun und Treiben solcher Kinder und
Jugendlichen, wenn über sie nur vermeldet wird, dass sie etwas
Gewünschtes nicht tun? Über ihr positives Handeln weiß man
nichts! Was diese Kinder und Jugendlichen anstellen, welche Gründe
sie dafür haben, welche Zwecke sie damit verfolgen, wie sie auf
diese ihre Anliegen gekommen sind und warum ihnen die Gewalttat
als Mittel zur Interessendurchsetzung so einleuchtet - all das lässt
der Begriff "Jugendgewalt" im Dunkeln. Offensichtlich
ist also auch nur von Interesse, am Verhalten von Jugendlichen
die "Abweichung", die "Devianz", die "soziale
Auffälligkeit" festzuhalten. Jugendforschung verkommt damit
der Sache nach zur Polizeiwissenschaft, die in wissenschaftlicher
Form allein dem Interesse zuarbeitet, dass die Jugend sich gefälligst
den für sie gültigen Regeln zu unterwerfen hat.
Auch der in der einschlägigen Literatur vorgeschlagene
Gewaltbegriff belegt diese Gleichgültigkeit noch einmal
eindrucksvoll. Wenn es etwa heißt, das "Gewalt eine
Verhaltensform ist, die zu persönlicher Schädigung führt"(3),
oder wenn D.Olweus über Gewalt nur noch tautologisch zu
vermelden weiß, dass sie dann vorliegt, wenn jemand "über
eine längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer
anderer"(4) ausgesetzt ist, dann ist man sich nicht sicher,
ob da von Steuereintreibung die Rede ist, vom Verlust des
Geldbeutels, von der Verteilung schlechter Noten durch den Lehrer
oder von einem Unfall. Jede Erinnerung daran, dass Gewalttaten
irgendetwas mit unversöhnlichen Anliegen - welcher Art auch
immer - zu tun haben müssen, dass folglich Gewalt das Mittel dafür
ist, rücksichtslos gegenüber dem fremden Willen den eigenen zur
Geltung zu bringen, ist von geringem Interesse. Wie sollte es
auch anders sein - wo es allein um die Unterbindung der gewalttätigen
Form der Verfolgung eines Anliegens mit seinem brisantem Inhalt
geht, letzterer aber von minderem Interesse ist.
Zwangsläufig verfehlen denn auch alle praktischen
Handlungsanleitungen zur Unterbindung von Gewalt, die von diesen
Erklärungsmustern ausgehen, die Sache. (5)
Fazit 1: Gewalt lässt sich nur unterbinden - soviel
steht jetzt schon fest -, wenn man deren Ursachen ermittelt hat.
Und den Ursachen der Rohheiten von Kindern und Jugendlichen kommt
man nur auf der Spur, wenn man erstens die Gründe und Zwecke
untersucht, für die Gewalt als Mittel eingesetzt wird, und wenn
man zweitens der Frage nachgeht, wieso solche Kinder und
Jugendlichen von der Legitimität und Tauglichkeit des Mittels
Gewalt überzeugt sind - wo doch Gewalt gegen Personen
hierzulande moralisch geächtet und per Gesetz verboten ist.
2. Der Gewalthaushalt von Nationen,
oder: Was der Bürger über Gewalt lernt.
Wenn nun Kinder und Jugendliche, die wissen, dass es
eigentlich verboten ist, andere zusammenzuschlagen, Ausländer zu
drangsalieren, Jacken zu "zocken" oder Geld zu
erpressen, dies aber dennoch tun, dann ist folgender weiterführender
Schluss fällig: Ächtung und Verbot von Gewalt, die Androhung
der moralischen Dequalifizierung ("Du bist ein schlechter
Mensch") oder die Drohung mit Strafe, die paradoxerweise
selbst immer auf den Gewalteinsatz hinausläuft, scheinen bei
Kindern und Jugendlichen - und wie man weiß, trifft auch dies
auf Erwachsene zu - so wirksam nicht zu sein. Und etwas Drittes
neben Ächtung und Verbot, nämlich die Kritik von Gewalt, nebst
der Kritik von Verhältnissen, die immer wieder den Einsatz von
Gewaltmitteln (in der Politik natürlich nur als "letztes
Mittel") hervorbringen, steht selten auf der Tagesordnung
all der Betreuungseinrichtungen, die sich die Unterbindung von
Gewalt zum Anliegen machen. Verwundern kann beides nicht, weder
die nur bedingte Wirksamkeit von Ächtung und Verbot noch die
fehlende Befassung mit bzw. Geltung von Gewalt-Kritik.
a. Gewaltkritik
Dabei ist Letzteres, die Gewaltkritik, leicht zu haben, wenn
man sie denn leisten möchte: Der Einsatz von Gewalt setzt auf
das Brechen eines fremden Willens, weil der sich dem eigenen
nicht gefügig zeigt. Und da der fremde Wille nur gebrochen
werden kann, indem das dem eigenen Willen entgegengesetzte
Handeln unterbunden wird, ist die Androhung oder Ausübung
physischen Zwangs angesagt. Jeder anderen möglichen Umgangsweise
mit dem konträren Anliegen wird eine Absage erteilt: Dem
argumentativen Austragen des Gegensatzes, dem Kompromiss oder dem
freiwillige Verzicht einer Seite auf die Durchsetzung seines
Interesses - und das sind nun einmal drei von vier alternativen
Formen (6), die vom Gewalttäter ausgeschlagen werden. Er setzt
auf - möglichst - überlegene Physis nebst einigen Hilfsmitteln,
folglich darauf, dass derjenige, der dem anderen mehr Schmerz
androhen oder zufügen kann, sich mit seinem Anliegen, seinem
Willen gegen den anderen durchsetzt. Das ist die schlichte Logik
der Gewalttat. Und selbstverständlich muss man kein Wort darüber
verlieren, dass dies immer und in jedem Fall verwerflich ist - übrigens
auch in dem Fall, wo der Einsatz von Gewalt eine Not abwehrt.
Dass ein Mensch zur Notwehr gezwungen ist, adelt keineswegs die
zum Zwecke der Befreiung aus der Notlage zum Einsatz gekommene
Gewalt. Die war dann schlicht notwendig, aber bleibt doch Gewalt
und unterliegt folglich der genannten Kritik.
Ergänzt werden soll diese Kritik durch den immanenten
Hinweis, dass der Gewalteinsatz in der Regel deswegen zudem sehr
"unvernünftig" ist, weil er sich selbst regelmäßig
perpetuiert. Da der Gegensatz der Anliegen, die sich ins Gehege
kommen, so gar nicht aus der Welt geschafft wird, ja auch gar
nicht werden soll, kommt es zur Gewalt-Eskalation. Der Kontrahent
ist bemüht, sich überlegene Mittel zu verschaffen, was den
ursprünglichen Angreifer gleichfalls zu verstärkten
Anstrengungen an dieser Front führt usw. Folglich ist gar nicht
abzusehen, wer schließlich der "Sieger" und wer der
"Verlierer" ist; nicht selten gibt es dann auf allen
Seiten nur "Verlierer" - zumal wenn es sich um
jugendliche Gewalttäter handelt, die anschließend immer von der
überlegenen Schul- oder Staatsgewalt gemaßregelt werden.
2.Fazit: Richtige Gewaltkritik kann folglich nie bei
der moralischen Verurteilung oder Ächtung der Gewalt stehen
bleiben, sondern muss neben der Kritik der Gewalt zwangsläufig
die Frage nach gesellschaftlichen Ursachen der Entstehung von
antagonistischen Interessen, Anliegen, Wünschen, Zwecken usw.
aufwerfen, die jeder Gewalttat zugrunde liegen. Denn die liegen
nun einmal nicht in der Menschennatur begründet, sondern haben
immer etwas mit Herrschaft, Eigentum und Konkurrenz zu tun.
...
Weiterlesen! Freerk Huisken
via Linkslog
Stellungnahme zur aktuellen Diskussion um eine Verschärfung des Jugendstrafrechts
Die folgende Resolution gegen die Verschärfung des Jugendstrafrechts wird von fast 1000 Hochschullehrer/innen und Praktiker/innen der Jugendstrafrechtspflege unterstützt:

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