Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind
Die Subventionen der EU fabrizieren
den Hunger in Afrika, der Zynismus der Kommissare in Brüssel ist
bodenlos. Eine solche Weltordnung muss radikal bekämpft werden,
meint Jean Ziegler.
den Hunger in Afrika, der Zynismus der Kommissare in Brüssel ist
bodenlos. Eine solche Weltordnung muss radikal bekämpft werden,
meint Jean Ziegler.
Es war eine stockfinstere, mondlose Nacht. Der Wind fegte
mit mehr als hundert Stundenkilometern über das Meer. Er peitschte
zehn Meter hohe Wellen hoch, die mit einem schrecklichen Tosen auf das
leichte Boot herabstürzten. Es war vor zehn Tagen von einer
kleinen Bucht an der mauretanischen Küste aufgebrochen, an Bord
101 afrikanische Flüchtlinge. Wie durch ein Wunder warf der Sturm
das Boot gegen ein Riff am Strand von El Médano, einer kleinen
Insel im Archipel der Kanarischen Inseln. Im Boot fand die spanische
Guardia Civil unter den verstörten Überlebenden die Leichen
von einer Frau und drei Jugendlichen, die an Hunger und Durst gestorben
waren.
Zur selben Zeit spielte sich, diesmal im Mittelmeer, ein anderes
Drama ab: 150 Kilometer südlich von Malta entdeckte ein
Beobachtungsflugzeug der Organisation Frontex ein mit 53 Personen stark
überladenes Schlauchboot, das – wahrscheinlich aufgrund
einer Motorpanne – auf den Wellen dahintrieb. Die Kameras des
Flugzeugs konnten an Bord Frauen und Kleinkinder ausmachen. Der Pilot
informierte sofort die maltesischen Behörden. Diese weigerten sich
einzugreifen unter dem Vorwand, dass sich die Flüchtlinge in einer
„libyschen Such- und Rettungszone“ befanden. Laura Boldini,
die Vertreterin des Hochkommissariats für Flüchtlinge der
Vereinten Nationen in La Valetta, intervenierte und bat die Malteser,
ein Schiff zur Rettung der in Seenot geratenen Menschen auszusenden. Es
war nichts zu machen. Europa rührte keinen Finger. Man verlor jede
Spur von den Flüchtlingen.
Wie viele von Elend, Hunger und Verzweiflung geplagte Afrikaner
verlassen alljährlich ihr Land, um unter Lebensgefahr den Versuch
zu unternehmen, nach Europa zu gelangen? Laut der spanischen Regierung
sind 47 685 illegale afrikanische Migranten im Jahr 2006 an den
spanischen Küsten gelandet. Dazu muss man die 23 151 illegalen
Migranten hinzurechnen, die von Libyen oder von Tunesien aus auf
italienischen Inseln oder auf Malta gelandet sind. Andere versuchen,
über Ägypten, die Türkei und Griechenland die
italienische Adriaküste zu erreichen. Die Flucht der afrikanischen
Hungerflüchtlinge über das Meer wird durch einen besonderen
Umstand begünstigt: die rasch voranschreitende Zerstörung der
Fischergemeinden an den Atlantik- und Mittelmeerküsten des
Kontinents. Diese Zerstörung kommt daher, dass die meist hoch
verschuldeten afrikanischen Staaten die Fischereirechte an
ausländische Unternehmen verkaufen. Die riesigen Fang- und
Verarbeitungsschiffe aus Japan, Kanada, Portugal, Frankreich,
Dänemark usw. verwüsten die Hoheitsgewässer. Die
ruinierten, in auswegloses Elend gestürzten und machtlosen Fischer
verkaufen ihre Boote billig an verbrecherische Menschenhändler
oder versuchen sich selbst als Schlepper. Diese Boote, die für die
Küstenfischerei in den Hoheitsgewässern gebaut sind, sind
nicht hochseetauglich.
Knapp unter einer Milliarde Menschen wohnen in Afrika. Zwischen
1972 und 2002 ist die Zahl der schwerst und dauerhaft
unterernährten Afrikaner von 81 auf 203 Millionen angewachsen.
Warum? Es gibt mehrere Gründe für dieses Desaster. Der
wichtigste Grund: die Landwirtschaftspolitik der Europäischen
Union. Die Industriestaaten der OECD haben ihren Landwirten und
Viehzüchtern im Jahr 2007 mehr als 350 Milliarden Dollar an
Subventionen für Produktion und Export ausbezahlt. Insbesondere
die Europäische Union praktiziert in Afrika das Agrar-Dumping. Das
führt in erster Linie zur systematischen Zerstörung der
afrikanischen Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln. Nehmen wir als
Beispiel „Sandaga“, den größten Markt für
gängige Konsumgüter in Westafrika. Sandaga ist eine
lärmende, bunte, duftende, wunderbare Welt mitten in Dakar. Die
Konsumenten können dort je nach Jahreszeit Gemüse und Obst
aus Portugal, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland usw. kaufen
– und zwar zu einem Drittel oder zur Hälfte des Preises der
gleichwertigen einheimischen Produkte. Einige Kilometer entfernt
arbeitet der afrikanische Bauer mit seiner Frau und seinen Kindern bis
zu 15 Stunden pro Tag bei glühender Hitze – und hat nicht
die geringste Aussicht, dafür ein anständiges
Mindesteinkommen zu erhalten. Die Politik des landwirtschaftlichen
Dumpings, die von Europa praktiziert wird, zerstört ihr Leben und
das ihrer Kinder.
Der Zynismus der EU-Kommissare in Brüssel ist bodenlos. Sie
fabrizieren den Hunger in Afrika und organisieren auf den Meeren die
Jagd nach den Hungerflüchtlingen. Sie haben eine halb geheime
militärische Organisation auf die Beine gestellt, die oben
erwähnte Frontex. Diese Institution ist für die
„Verteidigung der Außengrenzen Europas“
zuständig. Sie verfügt über schnelle und bewaffnete
hochseetaugliche Abfangschiffe, über Kampfhubschrauber, eine
Flotte von Überwachungsflugzeugen, die mit hochempfindlichen
Nachtsichtkameras ausgestattet sind, über Radaranlagen, Satelliten
sowie über hochentwickelte Mittel zur elektronischen
Fernüberwachung.
Frontex unterhält auf afrikanischem Boden auch
„Auffanglager“, in denen die Hungerflüchtlinge
zusammengepfercht sind, die aus dem mittleren, dem westlichen und dem
südlichen Afrika kommen, aus Tschad, aus der Demokratischen
Republik Kongo, aus Burundi, Kamerun, Eritrea, Malawi, Simbabwe und so
weiter. Oft sind diese Flüchtlinge schon sieben, acht Jahre lang
durch den Kontinent unterwegs. Sie schlagen sich mühsam durch,
überqueren Grenzen und versuchen, nach und nach näher an eine
Küste heranzukommen. Dann werden sie von den Leuten der Frontex
oder ihren örtlichen Helfershelfern abgefangen, die den Auftrag
haben, sie daran zu hindern, die Häfen am Mittelmeer oder am
Atlantik zu erreichen. Ich betone: Die Heuchelei der Kommissare in
Brüssel ist abscheulich. Einerseits organisieren sie die
Hungersnot in Afrika, auf der anderen Seite kriminalisieren sie die
Hungerflüchtlinge.
Um zu überleben, muss der Hungernde Grenzen
überschreiten. Er tut es illegal. Die Illegalität wird durch
den Notstand aufgehoben. Vorläufig ermöglicht kein Instrument
des internationalen Rechts, den Hungerflüchtling zu
„entkriminalisieren“. Die Konvention der Vereinten Nationen
für den Schutz von Flüchtlingen aus dem Jahr 1951
gewährt das Asylrecht nur den Personen, die aus rassischen,
religiösen oder politischen Gründen verfolgt werden. Diese
Kriterien sind nicht ausreichend. Was das UN-Abkommen für den
internationalen Schutz der Migranten betrifft, dessen Anwendung der
internationalen Arbeitsorganisation (und nicht dem Hochkommissar der UN
für Flüchtlinge) obliegt, so gestattet es keine ihrer
Bestimmungen, die Hungerflüchtlinge zu entkriminalisieren. Die
einzige Instanz, die gesetzgeberisch handeln kann, ist der Rat für
Menschenrechte der Vereinten Nationen, bestehend aus 47
Mitgliedsstaaten, die von der Generalversammlung in New York im
Verhältnis zu den Kontinenten für eine (verlängerbare)
Dauer von drei Jahren gewählt werden.
Im Imperium der Schande, das von der organisierten Knappheit
regiert wird, ist der Krieg nicht mehr vorübergehend, sondern
permanent. Er ist nicht mehr eine Krise oder eine Pathologie, sondern
der Normalfall. Er ist nicht mehr die „Verfinsterung der
Vernunft“ – wie Horkheimer/Adorno es in der
„Dialektik der Aufklärung“ analysierten –,
sondern der eigentliche Daseinsgrund des Imperiums. Die Herren des
Wirtschaftskrieges plündern systematisch den Planeten. Sie
attackieren die normative Macht der Staaten, sie zerstören die
Volkssouveränität, untergraben die Demokratie, verheeren die
Natur und vernichten die Menschen und deren Freiheit. Die
Naturalisierung der Ökonomie, die „unsichtbare Hand des
Marktes“ ist ihre Kosmogonie, die Profitmaximierung ihre Praxis.
Ich bezeichne diese Kosmogonie und diese Praxis als strukturelle
Gewalt. Die Verschuldung und der Hunger sind die zwei
Massenvernichtungswaffen, die von den Herren der Welt eingesetzt
werden, um die Völker, ihre Arbeitskraft, ihre Rohstoffe und ihre
Träume zu versklaven.
Von den 192 Staaten des Planeten liegen 122 in der südlichen
Hemisphäre. Ihre Auslandsschuld beläuft sich insgesamt auf
mehr als 2100 Milliarden Dollar. Die Außenschuld wirkt wie eine
Würgschraube. Der Großteil der Devisen, die ein Land der
Dritten Welt durch seine Exporte verdient, dient dazu, die
Amortisationstranchen und die Zinsen der Schuld zu bezahlen. Die
Gläubigerbanken des Nordens handeln wie Vampire. Das Schuldnerland
wird ausgeblutet. Die Schuld verhindert jede konsequente
gesellschaftliche Investition in die Bewässerung, die
Straßen-, Schul- und Gesundheitsinfrastruktur, und erst recht in
einen Industriesektor, welchen auch immer. Das tägliche Massaker
des Hungers geht in eiskalter Normalität weiter. Alle fünf
Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren an Hunger. Alle vier Minuten
erblindet jemand aufgrund von Vitamin A-Mangel. Im Jahr 2007 waren 856
Millionen Menschen – jeder sechste auf unserem Planeten –
schwer und dauerhaft unterernährt. Im Jahr 2005 waren es noch 842
Millionen. Der World Food Report der FAO, der diese Zahlen angibt,
versichert, dass die weltweite Landwirtschaft im derzeitigen
Entwicklungsstand ihrer Produktivkräfte normalerweise (das
heißt mit 2700 Kalorien pro Tag und pro Erwachsenem) 12
Milliarden Menschen ernähren könnte. Wir sind heute 6,6
Milliarden Menschen auf dieser Erde. Konklusion: Es gibt kein
unabänderliches Schicksal. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird
ermordet. Die wirtschaftliche, soziale und politische Weltordnung, die
vom Raubtierkapitalismus errichtet wurde, ist nicht nur
mörderisch. Sie ist auch absurd. Sie tötet, aber sie
tötet ohne Notwendigkeit. Sie muss radikal bekämpft werden.
Wo ist Hoffnung? In der Weigerung des Menschen, eine Welt zu
akzeptieren, in der das Elend, die Verzweiflung, die Ausbeutung und der
Hunger einer Vielzahl den relativen Wohlstand einer gewöhnlich
weißen Minderheit gewährleistet. Der moralische Imperativ
lebt in jedem von uns. Es geht darum, ihn zu wecken, den Widerstand zu
mobilisieren und den Kampf zu organisieren. Ich bin der andere, der
andere ist ich. Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird,
zerstört die Menschlichkeit in mir. Karl Marx: „Der
Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu
hören.“
Vom 5. bis zum 7. Juni 2007 hat im Seebad Heiligendamm an der
Ostsee das Treffen der Staats- und Regierungschefs der acht
mächtigsten Staaten des Planeten stattgefunden. Ein riesiges
Metallnetz in der Ostsee, eine Mauer, Stacheldraht über zwölf
Kilometer, Kampfschwimmer, ein US-Kriegsschiff, schwarze
Apache-Hubschrauber, 16 000 Polizisten, Elitetruppen und
Scharfschützen auf allen Dächern in allen Nachbardörfern
mussten die Staats- und Regierungschefs schützen. 5000
Journalisten aus der ganzen Welt, die in dem Nachbarort
Kühlungsborn zusammengepfercht waren, berichteten über das
Ereignis. In Heiligendamm haben Wladimir Putin, Angela Merkel, George
W. Bush und Nicolas Sarkozy und ihre Kollegen versucht, als die Herren
der Welt aufzutreten. Ein rührender Versuch, der ans
Lächerliche grenzt, sind doch die meisten unter ihnen –
selbst wenn sie demokratisch gewählt sind – nichts anderes
als Söldner der real herrschenden Konzerne. Im Jahr 2007 haben die
500 mächtigsten transkontinentalen Privatgesellschaften mehr als
53 Prozent des Weltbruttosozialprodukts kontrolliert, das heißt
aller Reichtümer (Kapital, Dienstleistungen, Waren, Patente usw.),
die in einem Jahr auf dem Planeten geschaffen werden. Afrika stand im
Mittelpunkt der Debatten. Die zwei wichtigsten Punkte der Tagesordnung
betrafen zum einen die „Garantie für
Privatinvestitionen“ und zum andern die „Universalität
des Patentschutzes“. Das Wort „Hunger“ kam auf der
Agenda von Heiligendamm nicht vor.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 27.04.2008)
gebattmer - 2008/04/28 22:49
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