Odessa = Tottenham revisited? Mechanismen der Eskalation
Können Sie die Bilder unterscheiden? - Los Angeles, Tottenham, Kairo, Athen .... Odessa = Riots!?
Wo Ordnungen zerfallen, Eliten versagen, Beziehungen sich auflösen und Wertschätzung ausbleibt, wird Gewalt zu einer höchst attraktiven Quelle der Anerkennung. Die Botschaft .... lautet: "Uns gibt es noch!", schreibt WILHELM HEITMEYER (in der taz vom 25.08.2011), seinen klugen Artikel über Mechanismen der Eskalation einleitend.
Heitmeyer fragt: Wie sind solche Unruhezyklen zu analysieren und zu erklären?
Es sind immer drei zentrale Faktoren zu untersuchen: die gesellschaftlichen Hintergründe, das Agieren politischer Eliten und die Mechanismen der Eskalation. (Klingt banal, ist aber offenbar nicht Standard!)
Ich halte es zum Verständnis der gegenwärtigen Vorgänge in der Ukraine für lohnend, diesen Forschungsansatz fruchtbar zu machen, um - im Sinne des Aufzeigens von Deeskalationschancen - der furchtbaren, in den hiesigen Medien dominierenden Cold-War-Zuschreibungslogik zu entkommen.
Es ist mir bewusst, dass der Ansatz nur begrenzt übertragen werden kann; - nicht weil es im Fall Odessa zweifellos internationale Verstrickungen gibt, die man in Tottenham nicht unterstellen kann. Das ist hier aber mE nicht das entscheidende Problem. Die "Odessa-Riots" vom 2. Mai unterscheiden sich vielmehr in ihrer Brutalität von allen anderen in der google-riot-Bildertafel, - und gleichzeitig im Hinblick auf das Interesse unserer Medien, etwas wissen zu wollen. Während westliche Medien die Frage umgehen, wer am 2. Mai in Odessa das Gewerkschaftshaus angezündet hat, gibt es um diese Frage in russischsprachigen Internetmedien eine breite Debatte mit Fotos, Videos und Augenzeugenberichten. (Gab es Drahtzieher der Tragödie von Odessa? Ulrich Heyden, tp 06.05.2014)
... während das Interesse der westlichen Medien an den brutalen Scharfschützen auf dem Maidan keine Grenzen kannte, mogelt man sich jetzt mit ungenauen Formulierungen am Brand im Gewerkschaftshaus vorbei. Typisch für die Berichterstattung ist folgender Kommentar in einer deutschen Wochenzeitung. "Ob das Feuer gezielt gelegt wurde oder der Brand aus Versehen ausbrach, das ist bis heute nicht geklärt."
Bilder von rechten Militanten, die Molotow-Cocktails auf das Gewerkschaftshaus werfen, gibt es genug... !
Wenn Sie sich Bilder aus dem Inneren des Gewerkschaftshauses anschauen wollen, die in im Internet kursieren, muss ich warnen: das ist schwer zu ertragen. Es spricht ja einiges dafür, dass diese Bilder authentisch sind und nicht von irgendeinem Geheimdienst im Krieg der Bilder eingesetzt werden.
Man könnte von den hiesigen Medien zumindest verlangen, dass sie sich damit auseinander setzen.
Was macht Leyendecker??
Das Ausmaß der Gewalt - am Maidan und in Odessa - also gilt es zu analysieren, um verstehen zu können, warum hier so schnell ein Zustand der Anomie, der Regellosigkeit und des Zusammenbruchs der sozialen Ordnung, eintritt: Ukraine als failing state ... (- was ja interessant ist im Hinblick auf die Frage, wie schnell andere Staaten zu failing states werden können ...)
Was nun Heitmeyers Analyse der Mechanismen der Eskalation und den möglichen Beitrag zur Klärung dieser Frage(n) angeht, so ist zu berücksichtigen, dass dieser Ansatz den Blick auf die inneren Verhältnisse lenkt (der hier in der Regel fehlt oder nur verkürzt dargestellt wird) und ausgeht von einem Muster von Desintegrationsprozessen, das in allen Gesellschaften beobachtbar ist, wo soziale und ökonomische Krisen zu bewältigen sind und dies - verkürzt gesagt - neoliberal zu regulieren versucht wird , - zweifellos in besonderer Ausprägung in der Ukraine:
- Das notwendige Verhältnis von Freiheit und Bindung wird in drei Dimensionen zerstört: in der sozialstrukturellen durch die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die zerstörerische Wirkung der Arbeitslosigkeit; in der institutionellen durch die Erfahrung und das Gefühl ungleicher und ungerechter Behandlung, etwa durch Politik, Polizei und Justiz; und in personaler Hinsicht, wenn die familiäre Ordnung zerfällt und soziokulturelle Beziehungen sich auflösen. Und immer wieder sind in diesen Bereichen entweder Anerkennungsverweigerung oder Anerkennungszerfall zu registrieren...
Hinzu kommen die jeweiligen sozialräumlichen Lebensbedingungen in segregierten, also "abgehängten" Stadtteilen von Großstädten. Hier sind rechtsfreie, zumindest kontrollfreie Räume entstanden, in denen die Normen der zivilen Gesellschaft nicht mehr gelten und von der Polizei auch nicht mehr durchgesetzt werden.
Heitmeyer schreibt weiter - und ich rege an, das probeweise auf die Situation in der Ukraine zu übertragen:
- Diese Situationen erzeugen ein hohes latentes Konflikt- und Wutpotenzial, können aber nicht den Ausbruch, die Eskalation und Verbreitung der Gewalt erklären. Dazu bedarf es des Zusammenwirkens verschiedener weiterer Faktoren:
Zunächst sind Signalereignisse notwendig. Diese sind nicht beliebig, um entzündungsfähig zu sein. Es muss ein Signalereignis einer bestimmten Qualität geben, damit es emotional und moralisch ausgebeutet werden kann wie die Erschießung des farbigen Familienvaters durch die Polizei in London. Ähnliche Beispiele haben wir auch schon anderswo gesehen, im Jahr 1992 in Los Angeles oder 2005 in einer Pariser Banlieue.
Ein zweiter wichtiger Faktor sind scharfe wechselseitige Feindbilder. In London verlangten die Demonstranten zunächst friedlich nach einer Untersuchung des Vorfalls, was die Polizei missachtete und so das Feindbild von der verhassten Staatsmacht bekräftigte. So kommt die Spirale der Eskalation mit ihrer überspringenden - also vom Signalereignis abgelösten - Gewalt etwa in anderen Stadtteilen und Städten in Gang.
Eine anstiftende Motivation liegt in der Opferrolle. Wer sich aber als Opfer betrachtet, gewinnt einen moralischen Vorsprung, der es ihm subjektiv erlaubt, das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Wenn dann die Normen des Einzelnen oder seiner Gruppe und die der Gesellschaft auseinanderfallen, droht ein Zustand der Anomie, der Regellosigkeit und des Zusammenbruchs der sozialen Ordnung. Dort, wo Jugendliche keine andere Form der sozialen Wertschätzung finden, ist Gewalt eine höchst attraktive Quelle der Anerkennung, ermöglicht durch Normlosigkeit.
Ein zentraler Faktor besteht darin, dass der Unruhezyklus nur dann seine volle Wucht entfaltet, wenn eine kritische Masse ... "erzeugt" werden kann, unter anderem über moderne Kommunikationsmittel und eine hohe Verteilungsmobilität im großstädtischen Raum. Als gefühlte Kollektivität zeigen diese Gruppen vor aller Augen, dass sie sich der Polizei stellen und eine zerstörerische Gegenmacht bilden können.
Die politischen Eliten spielen eine weitere eskalierende Rolle. So, wenn Premierminister Cameron mit der vollen Härte des Gegenschlags droht, nach dem Motto: Wir kriegen euch alle. Der frühere französische Innenminister Sarkozy hatte mit der berühmten Formel vom "Kärchern" eine besonders brutale Vorlage geliefert. Kontrollverluste durch die Polizei gehören auch zu den ausbreitenden Faktoren, weil es niemanden gibt in der amorphen Masse in den Straßen, mit denen etwa über den Stopp verhandelt werden kann.
Die Vervielfältigung der Abläufe über Medien erhöhen die Erfolgserlebnisse und erzeugen neue Motivation einschließlich der Bereitschaft zu erhöhter Brutalität, denn "mehr vom Gleichen" wird von den Medien nicht mehr aufgenommen....
Schließlich sind die groben Mittel wie Wasserwerfer und Reizgas eskalierend. Es kommt zu einer Repressionsinkonsistenz (so der amerikanische Soziologe Ted Gurr). Die Staatsgewalt trifft flächendeckend Schuldige wie Unschuldige, Anführer und Mitläufer oder nur am Rande Beteiligte. Es gibt weitere Solidarisierungsschübe. Dazu gehört auch: Jede Überreaktion erzeugt neue Wut, die Unterreaktion aber wird als Ermunterung verstanden, als Erfolgsbestätigung für neue eigene Gewalt.
Kurzer Nachtrag (09.04) dazu:
Interessant, wie Frau Kahlweit heute in der Süddeutschen eiert. Volkes Wille, Putins Ziele - Der Kreml will vermutlich keine Abspaltung der Ostukraine - Ach? Doch nicht? Wieso nicht?
Was in der Ostukraine geschieht, kann
Moskau nicht gefallen. Verbündete, die
Terror verbreiten, mag auch der auf Ord-
nung und klare Befehlsstrukturen bedach-
te russische Präsident nicht haben: Neben
professionellen Kämpfern und geschulten
Agitatoren tummeln sich im Donbass eitle
Neu-Politiker dubioser Provenienz, Schlä-
ger und Hooligans sowie kriminelle Ban-
den, die Banken und Geschäfte ausrauben.
Und, das darf nicht vergessen werden,
auch ehrlich empörte Bürger, die nicht mö-
gen, was sie aus Kiew hören.
Hört, hört! Es gibt doch ehrlich empörte Bürger, die nicht mögen, was sie aus Kiew hören?! Und Schläger und Hooligans sowie kriminelle Banden, die Banken und Geschäfte ausrauben ... Letzteres ist wohl doch schwer verkürzt formuliert und erinnert an Cameron zu Tottenham (- s.o. Heitmeyer), - aber immerhin sind nicht automatisch die, die gegen Putin sind, die Guten. Ein kleiner Fortschritt in der Analysekompetenz der Süddeutschen Zeitung, - auch wenn sie bei der platten Personalisierung bleibt: was Putin mag und nicht mag ...
Ansonsten: If you wish to understand the present, study the past ... L.A. Riots - 1992!
Vgl. CRISIS , WHAT CRISIS ? (XVI): Mechanismen der Eskalation - und ihre Bearbeitung im Politikunterricht
gebattmer - 2014/05/08 18:22
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