CRISIS , WHAT CRISIS ? (LIV): „Die kapitalistischen Interessen treten nackt hervor“ - Zur Aktualität Siegfried Kracauers
Georg Seeßlen hat heute auf seinem Blog Das Schönste an Deutschland ist die Autobahn einen Text veröffentlicht, in dem er Siegfried Kracauers Exposé zu einer Arbeit über „Masse und Propaganda“, in der Krakauer, von den sozialen und den ideologischen Folgen der Krise nach dem (ersten Welt-) Krieg ausgehend, die Funktionsweisen faschistischer Propaganda zu untersuchen unternehmen wollte, daraufhin überprüft, inwieweit dieser Ansatz hilfreich sein kann bei der Bewertung der Krise, die wir gerade erleben, und geeignet ist der Antwort, die Propaganda, Werbung, Unterhaltung, Information aktuell darauf geben beizukommen.
Sehr lesenswert - hier ein Auszug:
Veröffentlicht von Georg Seeßlen
Vgl. auch Siegfried Kracauer - Das Ornament der Masse
Sehr lesenswert - hier ein Auszug:
- ... Die ideologischen Folgen der Krise begannen für Kracauer mit
1. dem Zerfall der bürgerlichen Werthierarchie. Dieses Phänomen ist uns nur allzu geläufig. Es wiederholt sich auf der einen Seite, was Kracauer diagnostizierte, nämlich „dass die Bourgeoisie ihre Selbstsicherheit verliert und ihr Lebensstil problematisch wird“. Das heißt, diese (zerfallende) Klasse bestimmt nicht mehr Wert und Stil ihres Lebens aus sich selbst heraus, sondern ist auf der verzweifelten Suche nach Implantationen von Wert und Stil von außen. Die Klasse mithin, die eigentlich Kultur erzeugen und bewahren sollte, wird suchthaft abhängig von medialen und konsumistischen Einflüsterungen.
So wie das deutsche Bürgertum anfällig wurde in der Krise nach dem Krieg für die faschistischen „Werte“ und „Lebensstile“, so ist es in dieser Krise anfällig für ein mittlerweile noch chaotisches Angebot an anachronistischen, militanten, irrealen Angeboten von Werten und Stilen. Die ökonomische Identität wird also mit einem weiteren kulturellen Zerfall bezahlt. Die Fraktionen des Bürgertums, die sich über Konsum und Unterhaltung definieren, verlieren mit einer gemeinsamen Kultur auch eine gemeinsame Sprache.
Zur gleichen Zeit aber gilt auch, was Kracauer weiterhin als Krisenreaktion des Bürgertums darstellte: „Die kapitalistischen Interessen treten nackt hervor“.
Zu dieser Nacktheit gehört nicht nur ein Einverständnis mit der Ökonomisierung und „Privatisierung“ nahezu aller Lebensbereiche und gesellschaftlicher Räume, sondern auch ein Abschied von den Werten der Solidarität und der Gerechtigkeit. Das Ökonomische ist nahezu der einzige „Wert“ der in dieser Kultur überlebte; für alles andere wurden Surrogate geschaffen (bis hin zu Surrogaten für Mitleid oder Empörung).
Damit hängt auch das zweite Phänomen zusammen, das Kracauer als ideologische Folge der Krise analysieren wollte: „Die prekäre Lage des Mittelstands ergibt sich daraus, dass seine Angehörigen einerseits proletarisiert werden, andererseits durchaus in den bürgerlichen Traditionen befangen sind.“ Von „bürgerlichen Traditionen“ ist zwar ohnehin nicht viel übrig geblieben, indes tut sich in der Tat eine bizarre neue „Schere“ auf, nämlich die zwischen dem, als das, was man sich fühlt, und dem, was man ist. Ein Großteil des proletarisierten oder prekarisierten deutschen Bürgertums verweigert sich auch heute schlicht der Einsicht in die eigene soziale Lage. Jeder ist ein „Einzelfall“ und hält entweder sich selbst oder aber irgend einen mehr oder weniger imaginären anderen für schuldig am eigenen Abstieg...
Veröffentlicht von Georg Seeßlen
Vgl. auch Siegfried Kracauer - Das Ornament der Masse
gebattmer - 2012/07/02 23:17
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