Ich wies
seinerzeit darauf hin, dass
der
Bildungswirt am Beispiel des Faches Deutsch recherchiert hatte, wie bundesweit die Kultusbürokratie mit dem Zentralabitur die Reste dessen, was man
Bildung nennen könnte,
liquidiert hat und an die Stelle der zugegebenermaßen wenig befriedigenden Willkür des Fachlehrers die Willkür des ministeriell verordneten Irrsinns gesetzt hat. Alles, was man über die
Entwicklung von Lesekompetenz nach PISA wissen kann, wird eingedampft auf eine Schwundstufe von Lernen.
Ein weiteres schönes Beispiel fand ich im
Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 21.April: Im Abitur 2010 sollten bayerische Schülerinnen und Schüler die Standortvorteile japanischer Kernkraftwerke erörtern.
Grundkurs Erdbebenkunde
Aufgabe 2.2
Im Rahmen des Ausbaus der Energieerzeugung aus Kernkraft wurde beschlossen, die japanischen Kernkraftwerke an den Küsten, jedoch in Entfernung zu den großen Verdichtungsräumen zu errichten. Begründen Sie diese Entscheidung und stellen Sie positive Effekte für die Entwicklung der räumlichen Strukturen an diesen Standorten dar!
Beispiele aus den Abiturarbeiten:
»Da Japan durch Naturkatastrophen sehr gefährdet ist, ist der Bau von Kernkraftwerken in Entfernung zu Verdichtungsräumen sinnvoll. Des Weiteren ist die Küstenlage gut geeignet, da Kernkraftwerke viel Wasser zur Kühlung benötigen. Auch hier ist die Distanz von Vorteil, da sich das Wasser nicht nur erwärmt, sondern auch leicht radioaktiv sein kann.«
»Die Entscheidung, die Kernkraftwerke in Japan an den Küsten und nicht in den Städten zu errichten, wurde deshalb getroffen, weil ein Kernkraftwerk das Stadtbild stören würde. Außerdem sehen viele Menschen nach der Tschernobyl-Katastrophe ein solches Kernkraftwerk als gefährlich an; wenn wirklich einmal eine Katastrophe passieren sollte, liegt dieses Kernkraftwerk nicht mitten in einem Ballungsraum mit sehr vielen Menschen.«
»Der Bau von Kernkraftwerken schafft viele Arbeitsplätze, und durch die Ansiedlung, entfernt von Ballungsräumen, entlasten die Kernkraftwerke die überfüllten Städte.«
»Zum einen ist in den Ballungsräumen für riesige Anlagen wie ein Kernkraftwerk wenig Platz vorhanden, sodass eine Ansiedlung an anderen Orten unvermeidbar ist. Zum anderen dient die Ansiedlung an anderen Orten auch in gewisser Weise dem Schutz der Anwohner und den Strukturen der Städte, welche durch eine Explosion völlig zerstört wären.«
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»Kernkraftwerke sind nicht groß, das heißt, eine geringe Fläche reicht aus.«
»Dadurch, dass Kernkraftwerke aufs Land gebaut werden und nicht in die Stadt, verbessert sich die Infrastruktur der ländlichen Gegend. Auch die Landflucht wird eingedämmt, da sich nun auch Arbeitsplätze im ländlichen Teil einrichten lassen.«
...
Schöne Beispiele dafür, dass es - nicht nur im Fach Erdkunde -gar nicht darum geht, über irgendetwas nachzudenken, gar eine eigenständige, kritische Argumentation zu entfalten, sondern einzig darum, die Worthülsen der je domäneneigenen Schrumpeltheorien in einen einigermaßen sinnvollen Zusammenhang zu bringen; - wobei Sinn nicht an sich gefragt ist, sondern die Antizipation dessen verlangt, was die mit der Erstellung der Abituraufgaben Befassten wohl mit der Aufgabe meinen könnten. Schülerinnen und Schüler sind mittlerweile Meister darin, anhand der so genannten und häufig falsch verwendeten Operatoren und fachspezifischer Schlüsselwörter herauszufinden, welche Sinnfiktion aufgebaut werden soll. Das nenne ich
Schwundstufe von Lernen!
Die Musterlösung des Bayerischen Kultusministeriums macht das sehr schön deutlich:
Begründung der Entscheidung, v.a.
- Küstennähe: günstige bauliche Voraussetzungen aufgrund des flachen Reliefs und Zugang zu Kühlwasser;
- Lage außerhalb städtischer Verdichtungsräume: Vermeidung von Raumnutzungskonflikten bzw. Verringerung des Gefährdungspotenzials bei Unfällen.
Darstellen positiver Effekte, z.B.
- Verminderung räumlicher Disparitäten durch langfristig angelegte Investitionsprojekte abseits großer Verdichtungsräume;
- Verbesserung der regionalen Energieversorgung;
- Schaffung sicherer Arbeitsplätze in strukturschwächeren Räumen, verminderte Abwanderung;
- durch infrastrukturelle Erschließung Verbesserung der Voraussetzung zur Ansiedlung von Betrieben auch aus anderen Branchen sowie Ansiedlung von Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen aufgrund von Fühlungsvorteilen;
- verbesserte Investitionsmöglichkeiten der Kommungen durch bessere finanzielle Ausstattung infolge steigender Gewerbesteuereinnahmen und staatlicher Subventionen.
Die fett markierten Worthülsen sind eigentlich schon das Repertoire , dessen Beherrschung i.S. o. g. einigermaßen sinnvoller Kompilation ausreicht, um eine gute Leistung zu erzielen. Böswillig könnte man anmerken, dass hier die Push-and-Pull-Faktoren fehlen, - auch ein beliebtes Versatzstück sozial- und wirtschaftsgeografischer Schrumpeltheorie. Diese grandiose Absenkung des Bildungsniveaus ist nun nicht das Problem des Faches Erdkunde allein; - im Fach Politik/Wirtschaft, das -so meinte ich als Politiklehrer jedenfalls lange Zeit- eigentlich über Theorien größerer Reichweite verfügt, ist es gelungen einen ähnlichen Tiefstand zu erreichen, wenn Schülerinnen und Schüler mit Simpeltheorien der parlamentarischen Demokratie bzw. der sozialen Marktwirtschaft, die sich sofort vor jeder Wirklichkeit blamieren (und daher auch so schwer zu unterrichten sind, weil sie Realitätsbezüge nicht aushalten und daher eigentlich nur gepredigt werden können), irgendein Problem umgehen sollen.
Das ist der eigentliche Skandal: Es konnte ja von keinem Schüler erwartet werden, dass er im bayerischen Abitur 2010 die Kernschmelze von Fukushima voraussehend problematisierte (hätte er das getan, hätte er ja seine Punkte nicht bekommen!); - die Aufgaben und der ihnen vorausgehende Unterricht sind jedoch so angelegt, dass es zu wirklichen Erkenntnissen - oder auch nur sinnvollen Erörterungen gar nicht kommen kann!