Was ist heute eingreifendes Denken? (II): Die Macht der Dinge und die Ohnmacht der Menschen als Widerspruchszusammenhang - Alexander Kluge: Jeden Morgen liest Hegel Zeitung
Danke, Herr Kluge: "Widerspruchszusammenhang" erfasst präziser, was ich neulich mit Brecht zu klären versuchte: Begriffe: »Die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann« - Was ist heute eingreifendes Denken?
In seiner Dankesrede zur Verleihung des Heinrich-Heine Preises der Stadt Düsseldorf (- mein Gott, wie schwer hat man sich getan, den Heine als Sohn der Stadt anzunehmen!), die heute in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt ist (no link available), finde ich à propos Begriffe eine faszinierende Passage zur alten Frage aus dem Universalienstreit:
Nicht im Hinblick auf die Krim, aber am Beispiel eines anderen Konflikts und im Hinblick auf die Wahrnehmung und begriffliche Fassung von Einzelheit, Besonderem und Allgemeinem - denn darum geht es doch wohl - sei hier noch eine Leseprobe von Kluge als literarischem Autor empfohlen:
[Ich gehe davon aus, dass die Veröffentlichung als Leseprobe die Wiederveröffentlichung als Leseprobe erlaubt. Suhrkamp ist vermutlich ja auch mit sich selbst beschäftigt ...]
Schwankte er, ob es einen menschlichen Status als Zwitter oder Amphibie gebe, so daß im gleichen Bewußtsein Herr und Knecht zur Kooperation kämen. Der eine Teil des Bewußtseins verwandelt sich zu jedem Zeitpunkt in den anderen, und die gegenseitige Anerkennung bringt sowohl den Mut, das Leben einzusetzen, wie die Willigkeit zur Arbeit hervor. Hätte Hegel das beim Zeitunglesen gedacht, und hätte er es, so wie er es empfand, abermals nicht ins Manuskript geschrieben, sondern wieder so?
»Das Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat, kann wohl als Person anerkannt werden; aber es hat die Wahrheit dieses Anerkanntseins [. . .] nicht erreicht.«
Wunderbar, wie Kluge hier erkennbar macht, dass der große Dialektiker hinter den Denkmöglichkeiten von Widerspruchszusammenhängen zurückbleibt und in einem begrifflichen Totalitarismus landet, den auch ein Abu Bakr al-Baghdadi pflegt! Insofern stellt sich nochmal die Frage nach der Bedeutung der Begriffe, aber auch die nach der Berufbarkeit auf eine Aufklärung, die uns - abendländisch - den Anderen so überlegen erscheinen lassen soll ...
Die Herausforderung also: Das was geschieht oder was geschehen ist ("Geschichte") nicht länglich zu denken, sondern als Haufen , - eben als Widerspruchszusammenhang.
Ausgewählte Beispiele:
- Update Ukraine (XXXIII) & Syriana: Staatsattrappen, Rackets, Regime und Milizen - Tomasz Konicz
- Pepe Escobar - The Roving Eye (Das wandernde Auge)
- Georg Seeßlen: Die drei großen Leugnungen. Kleines Statement zur Lage der Dinge
In seiner Dankesrede zur Verleihung des Heinrich-Heine Preises der Stadt Düsseldorf (- mein Gott, wie schwer hat man sich getan, den Heine als Sohn der Stadt anzunehmen!), die heute in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt ist (no link available), finde ich à propos Begriffe eine faszinierende Passage zur alten Frage aus dem Universalienstreit:
- Was war zuerst, die Begriffe oder die
Dinge? Das Selbstbewusstsein der Men-
schen oder ihre Ohnmacht? In dieser Frage,
sagst Du, sei ich kein Nominalist, aber auch
kein Realist. Ich möchte Dir das bestätigen
an dem Beispiel, das Du anführst; von den
Bombenentschärfern im Luftschutzkeller.
Das sind erfahrene Klempner, selbstbe-
wusste Fachleute. Sie schrauben jede Bom-
be auseinander, wenn sie als Blindgänger
am Boden liegt. Im Moment aber sind sie
dem Bombengeschwader oben ausgelie-
fert, das seine Bombenschächte über der
Stadt entleert. Hier weht kein Weltgeist, son-
. dem die Dinge schlagen zu. Die Macht der
Dinge (das Geschwader, die Bombe) und die
Ohnmacht der Menschen (die Lage der Kel-
lerinsassen) bilden eine antagonistische Re-
alität. Alle diese Elemente sind keine Nomi-
na und sie sind keine Realia. Sie sind ein Wi-
derspruchszusammenhang, Wir Menschen
sind deshalb nicht ohnmächtig.
- Das ist der Blick
Heines, wenn er sagt: "Ich bin der inkar-
nierte Kosmopolitanismus". Er ist einge-
fleischter Weltbürger und Liebhaber zwei-
er Länder, über den Rhein hinweg.
"Wo wird einst des Wandermüden
letzte Ruhestätte sein?
Unter Linden an dem Rhein?
Und als Totenlampen schweben
nachts die Sterne über mir."
Diese Verse stellt sich Heine als seine
Grabinschrift vor.
In den drei Jahren vor seinem Tod tobt
1853-1856 der Krimkrieg.
Die Namen Sewastopol und Krim haben
für uns eine zeitgenössische Konnotation.
Es lohnt sich, mit Heines witzerfülltemAu -
ge den Koalitionskrieg des damaligen Wes-
tens zu betrachten: England, das theatrali-
sche Weltausstellungs-Frankreich Napole-
ons m., Piemont-Sardinien, also der Em-
bryo Italiens, und das Osmanische Reich
gegen das Russland des Zaren. Das ist der
erste moderne Krieg. Anders noch als in
den napoleonischen Kriegen wird eine
Massenpresse zum Garanten der Kriegs-
verlängerung. Erstmals Kriegsfotografie,
Telegrafie (noch in der Schlacht von Water-
l00 gibt es nur Brieftauben).
Karl Marx hat in einer New Yorker Zei-
tung Tag für Tag über diesen Krieg berich-
tet. Er beschreibt, wie zaristische Staatsan -
leihen über die Bankhäuser in Hamburg,
Wien und London die Börse anfachen. Die-
se Anleihen gewährleisten die russische
Rüstung. Der Boom, befeuert durch die ho-
hen Zinsen der russischen Papiere, finan-
ziert die Rüstungen der Alliierten gegen
Russland. Diese ersten Schritte zur Globali-
sierung der Kriegskosten wird Heine ge-
nauso beurteilt haben wie Marx.
Nicht im Hinblick auf die Krim, aber am Beispiel eines anderen Konflikts und im Hinblick auf die Wahrnehmung und begriffliche Fassung von Einzelheit, Besonderem und Allgemeinem - denn darum geht es doch wohl - sei hier noch eine Leseprobe von Kluge als literarischem Autor empfohlen:
[Ich gehe davon aus, dass die Veröffentlichung als Leseprobe die Wiederveröffentlichung als Leseprobe erlaubt. Suhrkamp ist vermutlich ja auch mit sich selbst beschäftigt ...]
Jeden Morgen liest Hegel Zeitung
Der Philosoph las außer den Berliner Blättern täglich die Edinburgh Review. Er war auf das Detail kapriziert. Das findet sich im Rohmaterial der Nachricht, nicht in der Meinung. Hegel brauchte mehrere Zeitungen, um unter der Tünche der Meinung die Einzelheiten wiederzuerkennen: Er las nicht, er produzierte. Stets neugierig auf die Wirklichkeit, bestehend aus unbezwinglicher EINZELHEIT (zum Beispiel Familien), dem BESONDEREN und dem ALLGEMEINEN. Diese Dreiheit ist als Durcheinander und nicht als Nebeneinander wirklich. So zeigt die Wahrheit lange Zeit ihr Medusenhaupt und dann in einem glücklichen Blitz auch ihr Gesicht.Während er an Teil IV A seiner Phänomenologie schrieb, fesselten ihn die Berichte über den Sklavenaufstand in St. Domingue, das wir heute Haiti nennen. Die schwarzen Plantagenarbeiter hatten sich zu Soldaten erklärt und kämpften mit dem Leitsatz: Freiheit oder Tod gegen Franzosen, Briten und Spanier. Die revolutionäre Bewegung hatte 500 000 Seelen erfaßt, die über einen Zeitraum von hundert Jahren von Afrika in die Karibik geschafft worden waren. Sind sie bereit, ihr Leben für die Freiheit zu wagen, so haben sie den Status von Herren, schloß Hegel. Niemanden aber haben sie zum Knecht, fuhr er in der Rekonstruktion des Rohmaterials der Nachricht fort: die britischen Händler nicht, die Franzosen auch nicht. Er hatte bisher nichts davon gehört, daß diese schwarzen Republikaner ihre eigenen Leute zum Knecht machen wollten, der die Arbeit leistet. Einen Herrenstatus wiederum, folgerte Hegel, konnten sie aus ihrer wilden Heimat in Afrika nicht mitgebracht haben. Er hätte auch nicht ihrer Identität während der Sklaverei entsprochen, die sie doch in jedes neue Leben mitnahmen, weil ein Mensch Identitäten nicht einfach ablegen und sich neue aussuchen kann, davon ging Hegel aus. Vielmehr schien ihm die Verwandlung von ehemaligen Sklaven in »Herren« auf einem blitzartigen Impuls des Bewußtseins zu beruhen, der in einer revolutionären Situation entsteht, indem ein Mensch sich am anderen entzündet.
Währenddessen lieferten die britischen Schiffe weiterhin Zucker nach Europa. Er kam aber von Plantagen auf anderen Inseln als Haiti. Die Revolutionäre schienen seinerzeit abgeschnitten vom Weltmarkt. Selbst wenn sie auf den großen Plantagen weiterhin gearbeitet hätten (das taten sie aber wohl nicht), hätten sie keine Herrschaft darüber gehabt, wie man das wertvolle Luxusprodukt bis zu den Kaffeetassen von Leipzig und in die Münder der Menschen bringt. Besser, sagte sich Hegel, sie wären wieder Sklaven und hätten Arbeit.
Er schwankte, ob es einen menschlichen Status als Zwitter oder Amphibie gebe, so daß im gleichen Bewußtsein (wie die Köpfe eines Doppeladlers, und wir besitzen zwei Hemisphären des Gehirns) Herr und Knecht zur Kooperation kämen. Der eine Teil des Bewußtseins verwandelt sich zu jedem Zeitpunkt in den anderen, und die gegenseitige Anerkennung bringt sowohl den Mut, das Leben einzusetzen, wie die (jetzt aber nicht als Furcht vor dem Herrn begründete) Willigkeit zur Arbeit hervor. Das dachte Hegel beim Zeitunglesen, schrieb es aber, so wie er es empfand, nicht ins Manuskript. Ab 11 Uhr, wie es seine Gewohnheit war, begann Hegel mit dem Schreiben. Täglich waren fünfzehn Seiten sein Pensum. An diesem Tage kam er bis zu den Sätzen:
»Das Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat, kann wohl als Person anerkannt werden; aber es hat die Wahrheit dieses Anerkanntseins [. . .] nicht erreicht. Ebenso muß jedes auf den Tod des anderen gehen [. . .]. Es verschwindet aber damit aus dem Spiele des Wechsels das wesentliche Moment, sich in Extreme entgegengesetzter Bestimmtheit zu versetzen; und die Mitte fällt in eine tote Einheit zusammen [. . .]. Ihre Tat ist die abstrakte Negation, nicht die Negation des Bewußtseins, welches so aufhebt, daß es das Aufgehobene aufbewahrt und erhellt [. . .].« (aus: Alexander Kluge: Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe. Suhrkamp Verlag: Berlin 2012, S. 157-158.)
Schwankte er, ob es einen menschlichen Status als Zwitter oder Amphibie gebe, so daß im gleichen Bewußtsein Herr und Knecht zur Kooperation kämen. Der eine Teil des Bewußtseins verwandelt sich zu jedem Zeitpunkt in den anderen, und die gegenseitige Anerkennung bringt sowohl den Mut, das Leben einzusetzen, wie die Willigkeit zur Arbeit hervor. Hätte Hegel das beim Zeitunglesen gedacht, und hätte er es, so wie er es empfand, abermals nicht ins Manuskript geschrieben, sondern wieder so?
»Das Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat, kann wohl als Person anerkannt werden; aber es hat die Wahrheit dieses Anerkanntseins [. . .] nicht erreicht.«
Wunderbar, wie Kluge hier erkennbar macht, dass der große Dialektiker hinter den Denkmöglichkeiten von Widerspruchszusammenhängen zurückbleibt und in einem begrifflichen Totalitarismus landet, den auch ein Abu Bakr al-Baghdadi pflegt! Insofern stellt sich nochmal die Frage nach der Bedeutung der Begriffe, aber auch die nach der Berufbarkeit auf eine Aufklärung, die uns - abendländisch - den Anderen so überlegen erscheinen lassen soll ...
Die Herausforderung also: Das was geschieht oder was geschehen ist ("Geschichte") nicht länglich zu denken, sondern als Haufen , - eben als Widerspruchszusammenhang.
Ausgewählte Beispiele:
- Update Ukraine (XXXIII) & Syriana: Staatsattrappen, Rackets, Regime und Milizen - Tomasz Konicz
- Pepe Escobar - The Roving Eye (Das wandernde Auge)
- Georg Seeßlen: Die drei großen Leugnungen. Kleines Statement zur Lage der Dinge
gebattmer - 2014/12/15 20:07
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