Mit Vollgas gegen die Wand
Sehr lesenswerter Artikel von Wolfgang Neef im Freitag dieser Woche - Auszug:
Das materielle Wachstum hat die Grenze der Tragfähigkeit und Reproduktionskraft der Biosphäre um 25 Prozent überschritten (Living Planet Report 2006, WWF). Das Ende der Fahnenstange ist also erreicht. Es ist nicht einfach, dies den Menschen in den Industrienationen zu vermitteln, die sich an die waren- und verkehrsintensive Lebensweise gewöhnt haben. Noch schwieriger ist es für die 80 Prozent der Menschheit im Süden, die sich den gleichen "Wohlstand" wünschen, einzusehen, dass die Ressourcen dazu nicht reichen. Noch vor 40 Jahren begnügten sich die 20 Prozent im Norden mit einer Technik, die mit etwa 1,5 Kilowatt Dauerleistung pro Person auskam - das entsprach dem Lebensstandard eines Schweizers 1965. Hochgerechnet auf die gesamte Erdbevölkerung wäre dies vom Biosystem verkraftbar. Heute nutzt jeder Europäer aber permanent rund sechs Kilowatt, jeder US-Amerikaner rund elf. Entsprechende Rechnungen gelten für die Nutzung der biologisch produktiven Land- und Meerfläche.
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In den vergangenen Wochen ist in die Debatte um Klimaschutz endlich Bewegung gekommen, nachdem Klimaforscher jahrelang erfolglos vor der weiteren Aufheizung der Atmosphäre durch zunehmende CO2-Emissionen gewarnt haben. Die Brisanz des Themas wird nun auch von Politik und Wirtschaft wahrgenommen. Nun soll viel Geld eingesetzt werden, um die Folgen des Klimawandels auszugleichen. Gleichzeitig werden andere Belastungen verdrängt: Das rapide wachsende Müll-Problem (zum Beispiel Chemieabfälle und Elektronikschrott), die ständig neu in die Welt gesetzten chemisch-pharmazeutischen Produkte und deren systemische Wirkung auf Mensch und Natur, das Trinkwasser-Problem in den südlichen Ländern. Es wird zudem ignoriert, dass Geld wenig ausrichten kann, wenn die örtlichen (natürlichen und gesellschaftlichen) Ressourcen erschöpft, zerstört oder vergiftet sind.
Schön ist wieder mal, wie die Auswirkungen des immer wieder gern auf Seite 1, im Wirtschafts- und im Lokaltteil gefeierten neoliberal betriebswirtschaftlich gepowerten Wachstums (z.B. in Form nun auch in Europa zunehmender, im weltweiten Vergleich wohl noch realativ läppischer Winterstürme) medial begleitet werden:
Da macht der Deutsche schon mal seine Schulen um 12 dicht und bleibt lieber zu Hause, die Zeitungen berichten von Umsatzeinbußen des örtlichen Einzelhandels und spannend ist die Frage, wie die Probetuben gehen... human-touch-Qualitätsjounalismus von meiner Lieblings-HAZ:
Probetuben sind gefragt
Gut, dass der Drogeriediscounter unterm Bahnhof ein umfangreiches Sortiment von kleinen Zahnpastatuben, Shampooflaschen und Cremetöpfchen im Angebot hat. Bei Rossmann konnten sich viele von denen, die wegen des Sturms im Bahnhof festsaßen, für die unerwartete Nacht jenseits des Heimat gleich mit Kosmetik fürs spontan gebuchte Hotelzimmer eindecken. „Die Probepackungen gingen hervorragend“, staunt Stephan-Thomas Klose, Sprecher des Drogeriekonzerns.
Gut, dass jeder Drogeriekonzern seit einiger Zeit einen Sprecher hat, sonst wüssten wir das nicht (wahrscheinlich auch ein Angehöriger des Prekariats: wenn ich nicht eine feine kleine Meldung zum Sturm ablasse, fliege ich - wie der Sohn mit dem Audi ...)
Im Vergleich zum Bangladeshi, der problemlos weiterarbeitet, wenn es windig wird: alles ein bisschen sehr verzärtelt ... Man könnte sich der These anschließen, dass Gesellschaftsformationen auch an Degeneration zu Grunde gehen können: Von der Reproduktionskraft der Biosphäre keine Ahnung, aber Cremetöpfchen im Angebot.
Empfehlung:
Elmar Altvater
Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen
WWF - Living Planet Report - Zusammenfassung deutsch
gebattmer - 2007/01/20 22:42
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