Archäologie CLI: Luhmann (1968) zum 13. August 1961 - Soziologische Aufklärung
Von Herrn L. bekam ich gestern diesen interessanten Text: Eine soziologische (nichtideologische) Beobachtung zum 13. August:
„Nicht nur gemeinsamer Glaube, sondern auch gemeinsame Indifferenz oder gemeinsame Ausweglosigkeit können dazu führen, daß die Macht eines politischen Systems sich in der Form von legitimen, fraglos akzeptierten Entscheidungen ausmünzen läßt.
Man braucht diesen erweiterten Legitimitätsbegriff zum Beispiel, um jenen seltenen Fall eines unbeabsichtigten Experimentes analysieren zu können, das die Deutsche Demokratische Republik in dieser Frage unternommen hat. Solange ihre Grenzen nach Westen hin offen waren und jeder, der blieb, freiwillig blieb, konnte sie die Legitimität ihrer Entscheidungen in der Tat nur auf eine persönlich zurechenbare Gesinnung stützen. Es gab die Möglichkeit auszuweichen in einem Umfange, der das normale ius emigrandi weit überschritt. Der einzelne war dadurch gleichsam vorläufiger Staatsbürger auf Widerruf und nahm das politische Regime, sofern er es nicht in seinen Prinzipien bejahte, doch jedenfalls durch eine persönlich zurechenbare Entscheidung in Kauf. Gerade diese Abhängigkeit von persönlicher Motivation, Gesinnung eingeschlossen, ergab keine ausreichende Basis der Legitimation. Die für große Verwaltungssysteme erforderliche Entscheidungssicherheit kann nicht allein auf Gesinnung oder auf andere persönliche Motive welcher Art immer gestützt werden, weil die sozialen Mechanismen der Habitualisierung und Verselbstverständlichung nicht Platz greifen, wo ein Verhalten als freiwillig, als persönlich bedingt und damit als variabel erlebt wird.
Der 13. August 1961 hat eine andere Situation geschaffen und in seinen faktischen Folgen das Legitimitätsbewußtsein in Richtung auf ein unpersönlichfragloses Akzeptieren gewandelt. Seitdem braucht niemand ein »normales« Verhalten zum Staat vor sich oder vor anderen als persönlichen Entschluß zu rechtfertigen. Auch von denen, die den Prinzipien des politischen Regimes innerlich Konsens verweigern, wird die Geltung der Entscheidungen nicht bestritten und als Geltung, also nicht nur freiwillig anerkannt. Es entsteht eine Staatsgesinnung, die kein ideologisches Bekenntnis voraussetzt. Daß solche Bekenntnisse verlangt und veranstaltet werden und daß auch das zum Akzeptieren von Entscheidungen gehören kann, ist eine andere Sache. Die einmalige Chance, einen Staat auf persönliche Gesinnung zu gründen, ist am 13. August 1961 aufgegeben worden“.
Quelle: Politische Soziologie. Manuskriptdruck Universität Bielefeld [u.a.] . Buchdruck [Aus dem Nachlaß] BerlinSuhrkamp 2011, S. 104/5 . Autor: Niklas Luhmann
Georg Fülberth zum 13. August 1961 - von der anderen Seite her gedacht:
... Die Achtundsechziger machen heute für sich geltend, zur demokratischen Zivilisierung der Bundesrepublik beigetragen zu haben. Da ist etwas dran. Die andere Hälfte der Wahrheit besteht darin, dass die Mauer Westdeutschland zur Selbstprüfung zwang. Jetzt erst wurde die Stellung ehemaliger Nazis im öffentlichen Leben nicht nur von linken Randgruppen, sondern auch in Mainstream-Zeitungen thematisiert. Wenn die Bundesrepublik am Ziel der Wiedervereinigung festhielt, musste sie ihre Nachbarn davon überzeugen, dass sich ihre politische Kultur vom alten Reich getrennt hatte. Ohne die Mauer wäre sie entweder nie oder doch viel später darauf gekommen. Erst durch sie bequemte man sich auch in Bonn dazu, an einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur mitzuwirken.
1989/1990 trat dann doch ein, was Chruschtschow und Ulbricht 1961 hatten verhindern wollen. Aber die Umstände waren inzwischen andere geworden. Die Bundesrepublik erhob keinen Anspruch mehr auf die ehemaligen deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße. Was auch immer man von ihrer neuen Politiker-Generation halten mochte: die Skepsis Mitterrands und die Warnungen Thatchers vor einem Reich in der Mitte Europas fanden weniger Gehör als vor 1968 und 1961. Nach heutigen Maßstäben hätten einige Akteure von 1961 den Friedensnobelpreis verdient: Chruschtschow und Kennedy, vielleicht auch Adenauer und Ulbricht. Ohne ihr verdecktes Kalkül und dessen Folgen hätte Willy Brandt diese Auszeichnung 1971 nicht entgegennehmen können. An Mauer und Stacheldraht starben mehrere hundert Menschen. Wer meint, dagegen sollten nicht die Millionen Toten eines vielleicht durch sie vermiedenen Dritten Weltkriegs aufgerechnet werden, mag um des lieben Friedens willen das letzte Wort behalten.
Georg Fülberth: Apokalypse und Kalkül
Sommer 61 - In den USA deutet sich ein Kurswechsel an, der auf die Hinnahme der Demarkationslinien in Europa hinausläuft und zum politischen Vorspiel des Mauerbaus gehört (Freitag 31.07.2011)
„Nicht nur gemeinsamer Glaube, sondern auch gemeinsame Indifferenz oder gemeinsame Ausweglosigkeit können dazu führen, daß die Macht eines politischen Systems sich in der Form von legitimen, fraglos akzeptierten Entscheidungen ausmünzen läßt.
Man braucht diesen erweiterten Legitimitätsbegriff zum Beispiel, um jenen seltenen Fall eines unbeabsichtigten Experimentes analysieren zu können, das die Deutsche Demokratische Republik in dieser Frage unternommen hat. Solange ihre Grenzen nach Westen hin offen waren und jeder, der blieb, freiwillig blieb, konnte sie die Legitimität ihrer Entscheidungen in der Tat nur auf eine persönlich zurechenbare Gesinnung stützen. Es gab die Möglichkeit auszuweichen in einem Umfange, der das normale ius emigrandi weit überschritt. Der einzelne war dadurch gleichsam vorläufiger Staatsbürger auf Widerruf und nahm das politische Regime, sofern er es nicht in seinen Prinzipien bejahte, doch jedenfalls durch eine persönlich zurechenbare Entscheidung in Kauf. Gerade diese Abhängigkeit von persönlicher Motivation, Gesinnung eingeschlossen, ergab keine ausreichende Basis der Legitimation. Die für große Verwaltungssysteme erforderliche Entscheidungssicherheit kann nicht allein auf Gesinnung oder auf andere persönliche Motive welcher Art immer gestützt werden, weil die sozialen Mechanismen der Habitualisierung und Verselbstverständlichung nicht Platz greifen, wo ein Verhalten als freiwillig, als persönlich bedingt und damit als variabel erlebt wird.
Der 13. August 1961 hat eine andere Situation geschaffen und in seinen faktischen Folgen das Legitimitätsbewußtsein in Richtung auf ein unpersönlichfragloses Akzeptieren gewandelt. Seitdem braucht niemand ein »normales« Verhalten zum Staat vor sich oder vor anderen als persönlichen Entschluß zu rechtfertigen. Auch von denen, die den Prinzipien des politischen Regimes innerlich Konsens verweigern, wird die Geltung der Entscheidungen nicht bestritten und als Geltung, also nicht nur freiwillig anerkannt. Es entsteht eine Staatsgesinnung, die kein ideologisches Bekenntnis voraussetzt. Daß solche Bekenntnisse verlangt und veranstaltet werden und daß auch das zum Akzeptieren von Entscheidungen gehören kann, ist eine andere Sache. Die einmalige Chance, einen Staat auf persönliche Gesinnung zu gründen, ist am 13. August 1961 aufgegeben worden“.
Quelle: Politische Soziologie. Manuskriptdruck Universität Bielefeld [u.a.] . Buchdruck [Aus dem Nachlaß] BerlinSuhrkamp 2011, S. 104/5 . Autor: Niklas Luhmann
Georg Fülberth zum 13. August 1961 - von der anderen Seite her gedacht:
... Die Achtundsechziger machen heute für sich geltend, zur demokratischen Zivilisierung der Bundesrepublik beigetragen zu haben. Da ist etwas dran. Die andere Hälfte der Wahrheit besteht darin, dass die Mauer Westdeutschland zur Selbstprüfung zwang. Jetzt erst wurde die Stellung ehemaliger Nazis im öffentlichen Leben nicht nur von linken Randgruppen, sondern auch in Mainstream-Zeitungen thematisiert. Wenn die Bundesrepublik am Ziel der Wiedervereinigung festhielt, musste sie ihre Nachbarn davon überzeugen, dass sich ihre politische Kultur vom alten Reich getrennt hatte. Ohne die Mauer wäre sie entweder nie oder doch viel später darauf gekommen. Erst durch sie bequemte man sich auch in Bonn dazu, an einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur mitzuwirken.
1989/1990 trat dann doch ein, was Chruschtschow und Ulbricht 1961 hatten verhindern wollen. Aber die Umstände waren inzwischen andere geworden. Die Bundesrepublik erhob keinen Anspruch mehr auf die ehemaligen deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße. Was auch immer man von ihrer neuen Politiker-Generation halten mochte: die Skepsis Mitterrands und die Warnungen Thatchers vor einem Reich in der Mitte Europas fanden weniger Gehör als vor 1968 und 1961. Nach heutigen Maßstäben hätten einige Akteure von 1961 den Friedensnobelpreis verdient: Chruschtschow und Kennedy, vielleicht auch Adenauer und Ulbricht. Ohne ihr verdecktes Kalkül und dessen Folgen hätte Willy Brandt diese Auszeichnung 1971 nicht entgegennehmen können. An Mauer und Stacheldraht starben mehrere hundert Menschen. Wer meint, dagegen sollten nicht die Millionen Toten eines vielleicht durch sie vermiedenen Dritten Weltkriegs aufgerechnet werden, mag um des lieben Friedens willen das letzte Wort behalten.
Georg Fülberth: Apokalypse und Kalkül
Sommer 61 - In den USA deutet sich ein Kurswechsel an, der auf die Hinnahme der Demarkationslinien in Europa hinausläuft und zum politischen Vorspiel des Mauerbaus gehört (Freitag 31.07.2011)
gebattmer - 2011/08/14 11:55
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